HERZBLUT
30.06.2020 GesellschaftWeshalb ich bald zum Wilderer werde
Vielleicht erinnern Sie sich: Ich habe unlängst an dieser Stelle über unsere Dosenmaschine geschrieben. Wir wollen sie brauchen, um Gemüse und Früchte aus unserem Garten zu konservieren.
Mittlerweile sehen wir ...
Weshalb ich bald zum Wilderer werde
Vielleicht erinnern Sie sich: Ich habe unlängst an dieser Stelle über unsere Dosenmaschine geschrieben. Wir wollen sie brauchen, um Gemüse und Früchte aus unserem Garten zu konservieren.
Mittlerweile sehen wir unsere Ernte allerdings akut bedroht! Ein impertinenter Schädling hat unseren weitläufigen Garten entdeckt und zu seinem Selbstbedienungsladen erklärt: ein ausgewachsenes Reh!
Es war in den Jahren zuvor schon hin und wieder aufgetaucht, hatte sich im Wesentlichen aber «nur» an unseren Rosen gütlich getan. Die Stöcke wurden stets bis aufs dornige Holz abgefressen. Das ärgerte uns zwar etwas, gleichzeitig war es aber auch eine Freude, das grosse Tier ab und zu in unserem Garten sehen zu dürfen: Natur pur! Über die frechen Rehe auf dem Friedhof Hörnli konnte ich schliesslich auch herzhaft lachen.
Konnte. Denn jetzt hat «unser» Viech jegliches Mass verloren. Wenn wir frühmorgens verschlafen die Läden öffnen: Es lungert im Garten herum und frisst. Wenn man am Nachmittag aufschaut: Es schaut aus sicherer Distanz zurück und frisst. Und vor dem Eindunkeln ist es sowieso dauernd da – und frisst. Rosen liebt es immer noch heiss, doch mittlerweile macht es sich auch ganz radikal über unsere kleine Bohnen- und Kefenplantage her. Es steht sodann ungeniert mit allen vieren in unserem Frühbeet herum (was für ein Bild!) und grast genüsslich unseren Salat ab. Sellerie und Kohlräbli scheint es nicht zu mögen, daher belässt es das dumme Stück dabei, die Setzlinge böswillig auszureissen, als wolle es jäten. Durch all unsere Beete führen tiefe Trittspuren. Kein Wunder, das Tier wird ja auch immer dicker!
Da meine Frau fürs Gemüse zuständig ist und ich für die Blumen, war bei mir der Verdruss anfänglich noch nicht ganz so gross. Jetzt aber ist der Zapfen ab! Kürzlich stellte ich mit gewaltigem Schrecken fest, dass das Reh fast sämtliche von mir liebevoll angezogenen und eingepflanzten Sonnenblumen abgefressen hat. Wir reden hier von Dutzenden! Alle waren schon schön stramm und gut einen halben Meter hoch. Übrig geblieben sind jämmerliche Stängel! Ich mag Sonnenblumen nicht nur deshalb so sehr, weil sie besonders fröhliche Gesellen sind, sondern auch, weil sie im Herbst Heerscharen von Distelfinken in den Garten locken. Ein Spektakel, für das man Eintritt verlangen könnte!
SMS an einen befreundeten Jäger: «Darf ich das Viech auf meinem eigenen Grundstück erlegen? Es ist ein klarer Fall von Notwehr!» Antwort: «Nein, das gibt eine Anzeige wegen Wilderei!» Nächstes SMS: «Darf ich ihm wenigsten mit dem Luftgewehr aus grosser Distanz ein Kügelchen auf den Pelz jagen, um es zu erschrecken?» Antwort: «Machs nid!»
Ja, was denn? Alles Losrennen, Fuchteln und auch das laute Rufen von hässlichsten Schimpfwörtern nützt nichts. Das dickschädlige Reh sprintet nur kurz los, stoppt dann und glotzt frech zurück! Jetzt denken wir allen Ernstes über einen Elektrozaun nach. Wenn auch der nichts nützt, gibt\'s im Winter Reh statt Gemüse aus der Dose. Ich schwörs!
David Thommen, Chefredaktor «Volksstimme»