Wenn der Flieder wieder blüht oder was Flieder und Banntag gemeinsam haben
19.05.2020 Gemeinden, Kultur, GesellschaftNacherzählt und ausgeschmückt von Irène Böhm
Wir Oberbaselbieter sind uns den Banntag gewohnt: Das Wandern um die eigene Gemeindegrenze, das Knallen der Schützen im Ohr und der «Mäie» auf dem Hut. Doch gerade der Hutschmuck und dessen Beschaffung kann Zuzüger vor den Kopf stossen, ...
Nacherzählt und ausgeschmückt von Irène Böhm
Wir Oberbaselbieter sind uns den Banntag gewohnt: Das Wandern um die eigene Gemeindegrenze, das Knallen der Schützen im Ohr und der «Mäie» auf dem Hut. Doch gerade der Hutschmuck und dessen Beschaffung kann Zuzüger vor den Kopf stossen, wie unsere Geschichte zeigt.
Irène Böhm
Banntage sind nicht in der ganzen Schweiz bekannt, sehr wohl aber hier im Oberbaselbiet und auch ich kenne ihn aus dem Kanton Zürich, wo ich aufgewachsen bin. War es früher ein Anlass, an dem vor allem die Männer die Grenze abschritten und die Grenzsteine kontrollierten, sie wieder einsetzten oder sie von der Nachbargemeinde zurückforderten, so ist es heute mehrheitlich ein gesellschaftlicher Anlass, an dem sich die Bevölkerung am Auffahrtstag trifft und Zugezogene mit dem Dorf Bekanntschaft schliessen können. Am Schluss der Grenzbegehung trifft man sich zu «Chlöpfer», Brot und Wein – und manch einer erlabt sich eher am Wein als an der Wanderung.
Nicht so Herr und Frau K.* Sie kommen aus dem Aargauischen und sind wenige Monate vor dem Auffahrtstag mit den Kindern ins Oberbaselbiet gezogen. Vom Banntag haben sie noch nie etwas gehört und staunen deshalb nicht schlecht, als sie vom Fenster ihres neuen Hauses aus beobachten müssen, wie sich an diesem Auffahrtstag ein ihnen fremder Herr am Flieder im Garten zu schaffen macht.
Frau K. steht also am Fenster und traut ihren Augen nicht, als dieser Herr zusätzlich noch die Leiter hervornimmt und sich eine Fliederblüte nach der andern vom Baum schneidet. Ziemlich erschreckt ruft sie ihren Mann herbei, der ebenso konsterniert das Geschehen vom Fenster aus betrachtet. Die beiden Eheleute schauen sich fragend an und wundern sich, in welch raue Gegend es sie jetzt wohl verschlagen habe. Dabei ist es hier doch so schön friedlich und ruhig, die Nachbarn sind nett. Und nun dies! Sie verstehen die Welt nicht mehr. Dass sich einer an diesem sonnigen heiligen Auffahrtstag am Flieder vergeht, können sie sich in Unkenntnis der hiesigen Sitten und Bräuche nicht erklären.
Sie wohnen zur Miete und unterlassen es deshalb, zu intervenieren. Vielleicht hat ja der Besitzer dem fremden Herrn erlaubt, sich am Flieder zu bedienen. Bald schon hat besagter Fremdling einen schönen Strauss beisammen, packt die Leiter aufs Auto und fährt mit seiner Beute davon. Immer noch sprachlos ob des Geschehenen und des Gesehenen setzen sich Herr und Frau K. zurück an den Frühstückstisch, wo sich die Kinder bereits an den weichen Eiern gütlich tun.
Wochen vergehen und Frau K. kommt irgendwann mit einer Nachbarin ins Gespräch. Sie erzählt ihr vom Erlebnis mit dem Flieder. Die Nachbarin, eine Einheimische, hört sich die Geschichte gespannt an und lacht innerlich, während Frau K. ihr die Geschichte mit immer noch grosser Konsternation erzählt. Doch irgendwann wird Frau K. von der Nachbarin über die hiesigen Sitten und Bräuche aufgeklärt: Am Banntag, und nur am Banntag, dürfe der Flieder für den Banntagshut gestohlen werden. Nur ein gefrevelter Flieder am Hut ist ein schöner Banntagshut. Aha, so ist das.
Seither sei es allerdings nicht mehr vorgekommen, dass in ihrem Garten Flieder gefrevelt worden sei, erzählt mir Frau K. Vielleicht liegt es daran, dass Herr und Frau K. die Liegenschaft mittlerweile erworben haben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Flieder in den vergangenen Jahren bis zum Banntag längst verblüht war. Somit gab es auch nichts zu freveln. Der Fliederbusch, übrigens, steht immer noch in K.’s Garten und gedeiht prächtiger denn je.
*Name geändert