Das Glas ist halb voll
Kuchen backen anstatt Siebenkampf, Gitarre spielen anstatt Barrenturnen oder Biken, anstatt im Ring zu kämpfen. Wie gehen eigentlich Spitzensportler mit der derzeitigen Situation um? Dieser Frage ging ich zwecks Recherchearbeiten für einen Artikel ...
Das Glas ist halb voll
Kuchen backen anstatt Siebenkampf, Gitarre spielen anstatt Barrenturnen oder Biken, anstatt im Ring zu kämpfen. Wie gehen eigentlich Spitzensportler mit der derzeitigen Situation um? Dieser Frage ging ich zwecks Recherchearbeiten für einen Artikel des nächsten Verbandsmagazins des Schweizerischen Turnverbands nach. Nachdem in den Medien in all den Wochen über verschiedenen Berufsschichten und ihre Folgen von Corona berichtet wurde, war ich äusserst gespannt, welche Antworten mich von Siebenkämpferin Géraldine Ruckstuhl oder von Ringer Stefan Reichmuth erwarten würden. Interessiert hat mich auch, wie die Athleten, die alle vom grossen Ziel, den Olympischen Spielen 2020 in Tokio, geträumt haben, die Verschiebung um ein ganzes Jahr verkraften würden.
Ich war überrascht, und dies im positiven Sinne. Keiner der befragten Athleten haderte mit seiner Situation und dem Umstand, dass der Sportleralltag völlig auf den Kopf gestellt wurde. Ganz im Gegenteil. Anstatt in einem Tief zu versinken, haben Sportler wie Kunstturner Benjamin Gischard oder Wasserspringerin Michelle Heimberg durchs Band nur von den positiven «Auswirkungen» der Coronakrise berichtet. Die zahlreichen Gespräche und vor allem der Umgang der Spitzensportler mit der Situation haben mich fasziniert. «Man kann das Glas halb leer oder halb voll sehen», hat mir in diesen Tagen eine weitere Interviewpartnerin, angesprochen auf die Corona-Auswirkung für ihre Anlassplanung, zu Protokoll gegeben. So abgedroschen dieses Zitat scheinen mag, es passt perfekt zur Einstellung der befragten Spitzensportler.
Von Gespräch zu Gespräch fragte ich mich immer mehr: Ist es diese Einstellung, in jeder noch so schweren Situation das Positive zu sehen, die einen erfolgreichen Sportler ausmacht? Denkt ein Spitzensportler von Geburt an immer nur positiv? Ist diese Einstellung, das Glas stets halb voll zu sehen, der Schlüssel zum Erfolg in der Sportwelt? Im Umgang mit der Coronakrise macht es jedenfalls ganz den Anschein.
So erfolgreich und so positiv eingestellt die Athleten sind, so kreativ sind sie mit der zwischenzeitlichen Schliessung der zahlreichen Sportanlagen umgegangen. So hat beispielsweise die U23-Europameisterin Ruckstuhl ihr Flair fürs Kuchenbacken ausgelebt, während EM-Bronzemedaillen-Gewinner Gischard seine Liebe zum Gitarrenspiel entdeckt hat. Stets das Gute sehen, das scheint eine Lebenseinstellung, ein Puzzleteil auf dem harten und steinigen Weg eines Profisportlers zu sein. Und so hat es mich nicht verwundert, dass alle Athleten auch aus der Olympia-Verschiebung ihren positiven Aspekt gezogen haben. Das Glas eines Sportlers ist eben stets halb voll.
Thomas Ditzler arbeitet beim Schweizerischen Turnverband und ist ehemaliger «Volksstimme»-Sportredaktor.