«Eine historische Legislatur»
03.12.2019 Baselbiet, Politik, RegionBern | Maya Graf hat als Alterspräsidentin die 51. Legislatur im Nationalrat eröffnet – Auszüge aus ihrer Rede
tho. Maya Graf war nicht nur die erste Frau, die – nach 18 Jahren im Amt – das Alterspräsidium im Nationalrat ausüben durfte. Sie war ...
Bern | Maya Graf hat als Alterspräsidentin die 51. Legislatur im Nationalrat eröffnet – Auszüge aus ihrer Rede
tho. Maya Graf war nicht nur die erste Frau, die – nach 18 Jahren im Amt – das Alterspräsidium im Nationalrat ausüben durfte. Sie war auch die erste Vertreterin der Grünen, der diese Ehre zufiel. Und sie war die erste Person aus dem Baselbiet. Hier – leicht gekürzt – ihre Rede zur Eröffnung der 51. Legislatur.
Es ist nicht irgendeine Legislatur, die heute beginnt. Sie kann als historisch bezeichnet werden. Noch nie war ein Parlament so weiblich, so ökologisch und so jung.
Heute darf ich hier 84 Nationalrätinnen begrüssen – so viele Frauen wie noch nie sind in unser Parlament gewählt worden. Helvetia freuts! … Und noch nie war ein Schweizer Parlament so jung und bestand aus so vielen ökologischen Kräften. Ich möchte dies als einen hoffnungsvollen Aufbruch in eine neue Zeit bezeichnen. Die Geschichte wird zeigen, was wir alle gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes daraus gemacht haben.
Wir haben in diesem Jahr eine Zeitenwende erlebt. In meinen 30 Jahren in der Politik habe ich selten so viele starke politische Manifestationen gesehen wie 2019. Zum ersten Mal seit der Umweltbewegung Anfang der 1980er-Jahre haben wieder junge Menschen die Strassen übernommen. Friedlich, laut und mit klaren Forderungen kämpfen diese Jugendlichen für ihre – und für unsere – Zukunft. Für ein rasches Handeln, um dem Klimawandel zu begegnen, solange noch Zeit ist. Und weil die jungen Menschen auch von vielen Eltern und Grosseltern Unterstützung erhalten, ist nicht nur die Solidarität, sondern auch der Einfluss in alle Gesellschaftsbereiche hinein gewachsen.
Parallel dazu hat im vergangenen Jahr eine zweite grosse Bewegung die Schweiz mitgerissen: Die Frauenbewegung ist neu erwacht. Der Frauenstreik mit mehr als einer halben Million Teilnehmenden am 14. Juni dieses Jahres hat eine Wegmarke gesetzt. Noch nie zuvor waren so viele Frauen und auch Männer auf den Strassen der Schweiz und haben sich lautstark, kreativ und entschlossen für die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter in allen Lebensbereichen ausgesprochen.
Ja, wir haben wahrlich ein bewegtes Jahr erlebt, ein sehr politisches Jahr. Und das tut unserer Demokratie gut. Und genau in einem solchem Moment zeigt sich die Stärke unseres Landes. Veränderungen, grosse und auch kleine, werden in den allermeisten Fällen friedlich angestrebt. Diese politischen Auseinandersetzungen werden auf der Strasse, an Gemeindeversammlungen, in den Parlamenten auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene ausgetragen – und an der Urne.
Bei der bis dato wohl grössten politischen Umwälzung in der Geschichte der modernen Schweiz ging es leider weniger friedlich zu. Vor genau hundert Jahren, im Oktober 1919, wurde nämlich das Proporzwahlrecht eingeführt – dies ein Jahr nach dem blutig niedergeschlagenen Generalstreik. Nach zwei misslungenen Anläufen und heftigen Abstimmungskämpfen hat es dann 1919 geklappt. Verantwortlich dafür, dass es schliesslich geklappt hat, waren die Konservativen und die Sozialdemokraten gemeinsam.
Als dann am 26. Oktober 1919 das Parlament zum ersten Mal nicht mehr im Majorzverfahren gewählt wurde, hatte das – für Schweizer Verhältnisse – epochale Umwälzungen zur Folge. Nie habe es in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaats im politischen Machtgefüge so gekracht, wie bei der Wahl von 1919, sagt der bekannte Politologe Claude Longchamp.
Bis dahin hatte der Freisinn die Schweiz quasi alleine beherrscht. Im Nationalrat hatte er seit der Gründung des Bundesstaats 1848 die absolute Mehrheit. Das änderte 1919. … Die politische Schweiz war über Nacht eine andere geworden. Die freisinnige Mehrheitsherrschaft war beendet, massgebliche Kräfte neu im Parlament eingebunden. Richtig eingebunden. Es war eine unruhige Zeitenwende. Aber es war der Beginn und die Bedingung für unsere Konkordanz.
Die Wahlen vom 20. Oktober 2019 und jene vor hundert Jahren haben durchaus Parallelen. Auch heute haben sich Teile der Bevölkerung eine Stimme verschafft, die sie vorher nicht hatten. Neue Kräfte erscheinen auf der Bühne unseres politischen Systems, neue Kräfte werden in unser politisches System eingebunden. Das stärkt unsere Demokratie. Und es hilft uns, gemeinsam gute Lösungen zu erarbeiten. Lösungen, die den Bedürfnissen der verschiedenen Gesellschaftsschichten besser entsprechen.
Die vergangenen hundert Jahre haben gezeigt: Die Schweiz ist stark darin, alle Schichten, alle Gruppen, alle Ideen und Welten in ein grosses Ganzes einzubinden. Was die vergangenen hundert Jahre auch gezeigt haben: Die Schweiz ist besser darin, Veränderungen zuzulassen, als wir das manchmal annehmen.
Wenn die totale Umgestaltung des Nationalrats im Jahr 1919 unser System nicht aus der Balance bringen konnte, sollten wir auch heute keine Angst davor haben, Veränderungen zuzulassen und zu begrüssen. Damals dauerte es weitere 40 Jahre, bis die SP in den Bundesrat eingebunden wurde, bis tatsächlich Konkordanz hergestellt worden ist. An dieser Stelle möchte ich gerne – ganz unparteiisch – darauf hinweisen, dass unser geschätzter Kollege, Nationalrat Daniel Brélaz, just vor 40 Jahren, also bereits 1979, das erste Mal und erst noch als erster Grüner weltweit, in den Nationalrat gewählt wurde. Seither sind die Grünen ununterbrochen im Schweizer Parlament vertreten.
Und als Baselbieterin möchte ich Ihnen noch ein Jubiläum ans Herz legen. Vor 100 Jahren erhielt Carl Spitteler aus Liestal den Literaturnobelpreis. Viele kennen seine Rede «Unser Schweizer Standpunkt», in der er zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur Einigkeit über die Sprachgrenzen hinweg aufgerufen hat. Zum Glück mit Erfolg. In dieser schwierigen Zeit tat ein Kulturschaffender das, was eigentlich Politiker hätten tun sollen – ich sollte sagen: hätten tun müssen. Die Herausforderungen sind heute zum Glück andere als 1914, aber es ist unsere zentrale Aufgabe als Parlament, uns in den wichtigen Fragen zu einigen, mutige Schritte zu tun und partikulare Interessen hintanzustellen. Dies ist unsere Aufgabe und wir dürfen sie nicht anderen überlassen, nicht einmal Nobelpreisträgerinnen oder Nobelpreisträgern. Das heisst nun aber nicht, dass wir deren Werke nicht lesen sollten.
Ich freue mich sehr, mit Ihnen allen, wenn auch bald nicht mehr in diesem Saal, aber in unserem Schweizer Parlament, die nächsten vier Jahre zum Wohl der ganzen Bevölkerung und der kommenden Generationen zusammenzuarbeiten. Lassen wir dem historischen Jahr 2019 eine historische Legislatur folgen. Und konstruktive Jahre der Zeitenwende.