«Es rütscht, es rütscht!»: Vor 50 Jahren zerstörte ein Erdrutsch die Autobahn-Baustelle
23.07.2019 Bauprojekte, Eptingen, Verkehr, Bezirk WaldenburgNach einem regenreichen Frühjahr ereignete sich im Sommer 1969 am Edelweiss-Hang in Eptingen ein schwerer Erdrutsch. Viele Personen erinnern sich noch an dieses Ereignis. Die «Volksstimme»stellt das Unglück erstmals aufgrund von amtlichen Akten dar. Namentlich geht der Autor auf die ...
Nach einem regenreichen Frühjahr ereignete sich im Sommer 1969 am Edelweiss-Hang in Eptingen ein schwerer Erdrutsch. Viele Personen erinnern sich noch an dieses Ereignis. Die «Volksstimme»stellt das Unglück erstmals aufgrund von amtlichen Akten dar. Namentlich geht der Autor auf die Hintergründe und die Abklärung der Ursachen ein.
Matthias Manz
Es ist der 27. Juli 1969, ein Sonntag. Früh am Morgen um 7 Uhr wird der junge Willi Schwander in Eptingen vom Ruf «Es rütscht, es rütscht!» von Theophil Jappert geweckt. Bauer Jappert ist auf dem Weg zurück aus der Käserei, wo er wie jeden Morgen die Milch seiner Kühe abgegeben hat.Ins Rutschen kamen der Edelweiss-Hang und der Eichenberg-Hang nördlich von Eptingen.
Am Fuss des schon damals berüchtigten Edelweiss-Hangs ist der Bau der Autobahn «Nationalstrasse 2» (N2, heute A2) seit drei Jahren im Gang. Im Belchentunnel wird schon seit sechs Jahren gearbeitet. Von Sissach kommend führt die Autobahn zwischen Diegten und Eptingen durch den Oberburg-Tunnel. Nach einem kurzen Viadukt schneidet das Trassee den Edelweiss-Hang an dessen Fuss an und quert vor dem Dorfeingang das Tal auf einem 220 Meter langen Viadukt zur westlichen Talseite, um der Dangernfluh entlang im Einschnitt zwischen «Stamberg» und «Wengen» dem Belchentunnel zuzustreben.
Willi Schwander ist Chauffeur bei der Mineralquelle Eptingen AG, die beim Dorfeingang ein Produktions- und Garagengebäude betreibt. Er eilt dorthin, um die Lastwagen der Firma in Sicherheit zu bringen, denn ihm ist klar, dass die «Eptinger»-Fabrik durch den Erdrutsch am Eichenberg-Hang gefährdet ist. Tatsächlich wird sich der Boden unter dem grossen Gebäude in den kommenden Stunden kontinuierlich anheben, die beiden Abfüllanlagen teilweise zerstören sowie das Dach und Wände des Gebäudes zum Einsturz bringen.
Die Fakten
Den Beginn des Erdrutschs hatte niemand beobachtet, er muss in der Nacht eingesetzt haben. Am Morgen zeigte sich zuoberst am Edelweiss-Hang an der «Schanz» eine Abrisskante von rund 450 Metern Länge. Der Hang war auf einer Breite von 200 Metern am Rutschen. Dass dieser nach Westen exponierte Hang sehr rutschgefährdet ist, war im Dorf bekannt. Auch den mit dem Autobahnbau beauftragten Geologen und Bauingenieuren war das Risiko von Anfang an klar. Sie waren überzeugt, die Gefahr mit den richtigen Massnahmen gebannt zu haben. Völlig überrascht wurden die Experten davon, dass der folgenschwere Teil des Erdrutschs sich am südwestlich ausgerichteten, flacheren Eichenberg-Hang näher gegen das Dorf hin ereignete – damit hatten sie zu keinem Zeitpunkt gerechnet.
An diesem Abhang betrieb die Gemeinde im Wald eine Mergelgrube. Darunter lag der Bauernhof «Eichenberg» der Familie Seiler; gleich unterhalb folgte der Friedhof und zuunterst im Talboden das Produktionsgebäude der Mineralquelle Eptingen AG, unter welchem der Diegterbach durchführte. Wenige dutzend Meter neben der «Eptinger» waren die Betonstützpfeiler für das Autobahn-Viadukt im Bau.
An diesem Sonntagmorgen zwischen 8 und 9 Uhr hörte die Familie Seiler Steine in die Mergelgrube kullern. Es krachte im Hang, weil Bäume umfielen. Die Erde setzte sich langsam, aber unaufhaltsam in Bewegung. Beim Bauernhaus zersprangen Fenster, nach einigen Stunden wurden Scheune und Wohnteil entzweigerissen. Familie Seiler musste das Gebäude fluchtartig verlassen, konnte neben Geld und Dokumenten nur die Schweine retten und das Gebäude für längere Zeit nicht mehr betreten. Im Gräberfeld des Friedhofs und an der Friedhofsmauer entstanden breite Risse. Das Produktionsgebäude der Mineralquelle Eptingen AG wurde von den Erdmassen angehoben, Wände und das Dach stürzten ein. Auf der Baustelle der Autobahn donnerte eine Hilfsbrücke für den Autobahnbau zu Boden, neu gebaute Brückenpfeiler gerieten arg in Schieflage. Der Diegterbach staute sich, die Elektrizitätsversorgung des Dorfs brach zusammen, die Kantonsstrasse war unpassierbar.
Die Polizei war rasch alarmiert worden. Sie sperrte die Strassen und das durch umstürzende Bauteile gefährdete Gebiet ab. Die Feuerwehren von Eptingen, Sissach und Läufelfingen wurden aufgeboten, um das Wasser des Diegterbachs abzupumpen. Am Montagmorgen stürzten schliesslich zwei grosse Baukräne um.Am Mittwoch waren keine weiteren Rutschungen mehr feststellbar. Es wurde geschätzt, dass rund 800 000 Kubikmeter Erdmasse in Bewegung geraten waren.
Der materielle Schaden des Erdrutschs von Eptingen war riesig, die Zukunft des Autobahnbaus in dieser Gegend unsicher. Menschen kamen zum Glück nicht zu Schaden. 16 Personen mussten aus gefährdeten Gebäuden evakuiert und im Dorf untergebracht werden.
Die Kommunikation
Haarscharf ging man an einem Fiasko vorbei, muss man hinterher sagen. Das Interesse der Öffentlichkeit war naturgemäss riesig. Die Medien wurden um 10.45 Uhr durch das Polizeikommando über das Ereignis informiert. Das Schweizer Radio DRS wollte um 11.45 Uhr für die Mittagssendung von Hermann Weber und Peter Läufer ein Interview mit einer verantwortlichen Person führen. Das Unglück überraschte die Verantwortlichen allerdings im Sonntags- beziehungsweise Ferienmodus. Das Handy-Zeitalter mit seiner Erreichund Verfügbarkeit rund um die Uhr lag noch in weiter Ferne.
Der zuständige Baudirektor Paul Manz weilte in den Ferien im Engadin und konnte erst um 13 Uhr telefonisch erreicht werden; er traf um 19.30 Uhr am Unglücksort ein und ordnete auf 21 Uhr eine Lagebesprechung an. In der Zwischenzeit hatten die anwesenden Verantwortlichen, ermuntert durch den erfahrenen Politiker Nationalrat Karl Flubacher, die Medien am Sonntagnachmittag zu einer Orientierung eingeladen. Regierungspräsident Karl Zeltner, als Stellvertreter des Baudirektors, Ingenieur Armin Aegerter von der Oberbauleitung des Nationalstrassenbaus und der Geologe Hansjörg Schmassmann traten um 15 Uhr nach einer Inspektion des Erdrutschhangs vor die Medien. In der Eile hatten sich die Verantwortlichen wohl zu wenig Gedanken über die Wirkung ihrer Aussagen zum Unglück machen können. Denn bei den Medienschaffenden entstand der Eindruck, dass die Verantwortlichen den naheliegenden Zusammenhang zwischen dem Erdrutsch und dem Autobahnbau bestreiten würden – als uneinsichtige Rechthaber dazustehen, hätte einen verheerenden Eindruck in der Öffentlichkeit hinterlassen. Die dem Autobahnbau eigentlich wohlgesinnten regionalen Medienvertreter schüttelten den Kopf.
Am folgenden Tag, dem Montag, lud Baudirektor Manz am späten Nachmittag zu einer neuerlichen Medienkonferenz ein. Nach einer intensiven Vorbesprechung war die Botschaft nun eine andere: In erster Linie wurde der Erdrutsch als Zumutung für die lokale Bevölkerung bedauert, die mit dem Autobahnbau bereits hinreichend belastet sei. Zweitens wurden die Schwierigkeiten für die direkt Geschädigten beklagt, namentlich für die evakuierten Familien und für die Mineralquelle Eptingen AG. Im Vordergrund stünden nun die Notmassnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit, zur Umleitung des Diegterbachs und zur Wiedereröffnung der Kantonsstrasse ins Dorf Eptingen.
Dank der spontanen Hilfe durch die Brauerei Feldschlösschen, die Tankwagen zur Verfügung stellte, konnte das Mineralwasser nach Sissach transportiert und dort in einer alten Anlage abgefüllt werden – übrigens in jener Halle, in der heute das Farnsburger Bier produziert und abgefüllt wird. Die Ursachen des Erdrutschs sollten durch unabhängige Instanzen abgeklärt werden. Manz zeigte sich pessimistisch, dass die Autobahn wie geplant Ende 1970 eröffnet werden könne.
Bereits am Dienstagabend, 29. Juli, fand in Eptingen eine ausserordentliche Gemeindeversammlung statt, um über die Verlegung des nicht mehr benutzbaren Friedhofs zu beraten. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung von den anwesenden Regierungsräten Paul Manz und Ernst Löliger aus erster Hand informiert. Anwesend waren 140 Personen, wovon etwa ein Drittel Frauen. Diese waren eingeladen worden, obschon sie noch nicht stimmberechtigt waren. Das Thema sei «dermassen wichtig, dass sie mitreden sollten», wie die «Volksstimme» berichtete.
An der Versammlung wurde von den Regierungsmitgliedern zugesichert, dass weder an der Gemeinde noch an den geschädigten Privaten ein finanzieller Schaden hängen bleiben werde. Ob der Staat oder die Gebäudeversicherung bezahlen würde, müsste die Geschädigten nicht interessieren. Hinter den Kulissen bedurfte es allerdings eines Machtworts der Politiker, um sicherzustellen, dass den Geschädigten unbürokratisch als Vorschuss Geld überwiesen wurde. Man mag heute darüber staunen, dass die Stimmberechtigten bereits zwei Tage nach dem Unglück über die Verlegung des Friedhofs befinden konnten. Die Gemeinde hatte kurz vorher im Rahmen der Ortsplanung Land für einen neuen Standort des Friedhofs ausgeschieden für den Fall, dass der alte Friedhof wegen des zu erwartenden Autobahnlärms aufgegeben werden müsste.
Auch drei Wochen nach dem Erdrutsch war das Interesse der Bevölkerung noch riesig. Die Polizei hielt fest, dass an einem Wochenende Mitte August 400 Fahrzeuge parkiert wurden und lobte das disziplinierte Verhalten der Schaulustigen. Wenig goutiert wurde seitens der Behörden die Berichterstattung durch die Boulevard-Presse, in der von aufgebrochenen Gräbern ohne Särge berichtet oder behauptet wurde, die Behörden würden sich nicht um die Geschädigten kümmern und die Verantwortlichkeiten für den Erdrutsch vertuschen wollen.
Die Bewältigung
Bis Mitte August hatte sich die Lage in Eptingen wieder normalisiert. Der Diegterbach war umgeleitet, die Kantonsstrasse wieder offen, die beschädigten Brückenpfeiler mit ihren Fundamenten waren gesprengt. Der provisorische Polizeiposten der Kantonspolizei im Gemeindehaus konnte aufgehoben werden.
Die Bundes- und Kantonsbehörden waren rasch übereingekommen, dass die Bauarbeiten erst fortgesetzt werden könnten, wenn genauere Untersuchungen über den in Bewegung geratenen Hang erfolgt seien. Zu diesem Zweck wurden zusätzliche Sondierbohrungen am Edelweiss- und am Eichenberg-Hang veranlasst sowie weitere externe Experten für die Interpretation der Befunde beigezogen. Zwar war eine Änderung der Linienführung für die Autobahn im Raum Eptingen von Anfang an ausgeschlossen worden – aber die Frage blieb: Wie kann für die Autobahn die Sicherheit gewährleistet und dennoch zügig vorwärts gemacht werden? Denn je weiter der Schock des Erdrutschs sich entfernte, desto mehr bedrückte die Verantwortlichen die Schmach, dass der Belchentunnel und die Solothurner Seite der N2 fristgerecht fertiggestellt sein könnten, aber die Autobahn wegen den Problemen auf der Baselbieter Seite nicht betriebsbereit wäre. Entsprechend wurde Gas gegeben, um die Bauarbeiten wieder in Gang zu setzen. Nur schon, weil 57 grosse Baumaschinen der Bauunternehmungen stillstanden und den Staat «für nichts» bis zu 10 000 Franken pro Tag kosteten.
Bald fuhren die Bagger wieder auf, um die Sanierung des Edelweiss-Hangs fortzusetzen, die durch den Erdrutsch unterbrochen worden war (davon später mehr). Das Bauprojekt wurde so angepasst, dass der Damm entlang des Edelweiss-Hangs verlängert und die anschliessende Brücke um die Hälfte auf 100 Meter verkürzt wurde. Dies verlieh dem Hangsockel grössere Stabilität und verminderte das Risiko, dass die Brückenpfeiler durch einen künftigen Erdrutsch beeinträchtigt werden könnten. Nach einem erneuten Planauflageverfahren wurde die neue Brücke ab Februar 1970 innert 10 Monaten gebaut – und siehe da: Was nach dem Erdrutsch-Schock keiner zu hoffen gewagt hatte – der Autobahn-Abschnitt Augst-Eptingen-Egerkingen konnte am 23. Dezember 1970 planmässig eröffnet werden.
Zur Bewältigung des Unglücks gehört neben dem Autobahnbau auch die Regulierung der übrigen entstandenen Schäden. Der Hof Eichenberg war nicht mehr zu retten und musste abgerissen werden; die Besitzerfamilie wurde für Verlust und Umtriebe entschädigt. Wegen der Verlängerung des Erddamms für die Autobahn musste das Garagengebäude der Autogesellschaft Sissach-Eptingen weichen und etwas weiter nördlich am Dorfausgang neu gebaut werden. Die Gemeinde Eptingen hatte ihren Friedhof stillzulegen, für den neuen erhielt sie vom Bund zulasten des Autobahnkredits eine pauschale Abgeltung von 540 000 Franken. Bis der neue Friedhof bereit war, wurden die Verstorbenen provisorisch neben der Kirche beerdigt, wozu spezielle Metallsärge benötigt wurden. Auch dies nahm der Bund auf seine Rechnung. Den weitaus grössten Schaden trug die Mineralquelle Eptingen AG davon. Zwar wurde die Quellfassung des Mineralwassers nicht tangiert, sie lag weitab des Erdrutsch-Gebiets. Um ihre verunsicherte Kundschaft zu beruhigen, publizierte die «Eptinger» nach dem Erdrutsch Zeitungsinserate mit dieser Information. Der Betrieb war aber durch die starke Beschädigung des Produktionsgebäudes und der Abfüllanlagen erheblich beeinträchtigt. Bis Ende Januar 1970 musste das Wasser nach Sissach gekarrt und dort abgefüllt werden. Anschliessend wurde auf einer wiederhergestellten Abfüllanlage im notdürftig reparierten Gebäude in Eptingen mit reduzierter Leistung produziert. Mitte 1973 konnte das neue Produktionsgebäude ausgangs Eptingen in Betrieb genommen werden. Für die Produktionsausfälle, die Schäden und das neue Gebäude musste der Autobahnkredit in angemessener Weise geradestehen.
In der Schlussabrechnung summierten sich die Schadenszahlungen auf rund 13,4 Millionen Franken, die zusätzlichen Aufwendungen für die Hangsanierung und den Autobahnbau wurden auf 6,7 Millionen Franken beziffert. Von diesen rund 20 Millionen Franken bezahlte der Bund gemäss dem allgemeinen Finanzierungsschlüssel für den Autobahnbau 84 Prozent und der Kanton Basel-Landschaft 16 Prozent.
Fortsetzung folgt.
Matthias Manz war 1987–2000 Staatsarchivar des Kantons Basel-Landschaft. Der 65-Jährige lebt heute mit seiner Frau in Aarau. Der im Text aufgeführte Regierungsrat Paul Manz (1924–1995) war sein Vater.