HERZBLUT
10.09.2021 GesellschaftAnweisung ohne Gewähr
Mein Navi weiss nicht, dass ich sechs Meter lang und zwei Meter breit bin. Das führt zu allerlei überraschenden Situationen: Ich fahre mit meinem Camper in eine Gasse, die immer enger wird und, wenn ich Pech habe, auch noch Gegenverkehr ...
Anweisung ohne Gewähr
Mein Navi weiss nicht, dass ich sechs Meter lang und zwei Meter breit bin. Das führt zu allerlei überraschenden Situationen: Ich fahre mit meinem Camper in eine Gasse, die immer enger wird und, wenn ich Pech habe, auch noch Gegenverkehr hat. Ich stehe plötzlich vor einer Brücke, die mir beidseitig noch zehn Zentimeter Platz lässt. Oder ich befinde mich unvermutet auf einem Feldweg, wo mir das Gras am Unterboden entlang wischt.
Mein Navi ist ausserdem eigenwillig, was rechts und links betrifft. Die Anzeige auf dem Gerät weist nach rechts; die Navi-Frau sagt:«Links.» Ganz zu schweigen von den Ausfahrten aus Kreiseln. «Nehmen Sie die vierte Ausfahrt!» Es gibt aber nur zwei.
Ich weiss nicht, wie oft ich dieser Dame gerne persönlich den Hals umgedreht hätte, weil sie mich in die Irre führte. In einem wilden kalabrischen Flusstal war es dann fast soweit. Von einer Anhöhe wollte ich zum Flussbett hinunter. Das Navi zeigte eine befahrbare Strasse an. Also befolgte ich die Anweisungen und schwenkte nach links in einen Seitenweg. Nach 50 Metern fiel dieser plötzlich steil ab. Der Strassenbelag verwandelte sich in ein ausgewaschenes Bachbett. Die Sträucher kratzten mit hohem Kreischen am Camper entlang. Umkehren war keine Option, es gab keinen Platz zum Wenden und im Rückwärtsgang drehten die Räder durch. Ich musste vorwärts, egal, was da kommen mochte. In der Talsohle angekommen, wurde aus dem Weg ein Sumpf. Frösche sprangen entsetzt aus meiner Fahrspur. Immer wieder blieb ich im Matsch stecken. Was würde ich machen, wenn gar nichts mehr ging? Gab es hier einen Abschleppdienst? Selbst wenn – an diesem gottverlassenen Ort hatte ich keinen Handyempfang. Nach zwei schweisstreibenden Kilometern kam endlich die Erlösung: In Zentimeterschrittchen konnte ich wenden. Dann ging es zurück und alles begann von vorne: Die Frösche sprangen, die Sträucher kreischten und ich fluchte. Nach drei Anläufen und reichlich Feingefühl im rechten Fuss schaffte ich auch das steile Bachbett wieder hinauf. Danach war ich so geschafft, als hätte ich einen Dauerlauf hinter mir.
Nicht immer führen die Kapriolen meines Navis zu dramatischen Situationen. Ich muss gestehen, dass ich viele schöne Orte nie kennengelernt hätte, wenn ich den Anweisungen der Navi-Dame nicht blindlings gefolgt wäre. An der Vézère in der Dordogne gibt es einen kleinen Ort mit einer Kirche, einem Schloss und einem wunderbaren altmodischen Lebensmittelladen mit Café am Flussufer. Man sitzt im Schatten von Linden auf zusammengewürfeltem Mobiliar. Die Kinder schlecken Glace am Stiel. Die Erwachsenen trinken Wein. Die Schwalben jagen Mücken über dem Fluss. Auf den Tischen stehen Schüsseln mit Walnüssen, die man knacken darf. An der Schlossmauer rankt sich eine gelbe Kletterrose empor. Eine Idylle so kitschig, dass man sie einpacken und mit nach Hause nehmen möchte. Gefunden habe ich Saint-Léon-sur-Vézère, weil ich meinem Navi nach links gefolgt bin, als alle Strassenschilder nach rechts gezeigt haben.
Yvonne Zollinger ist ehemalige «Volksstimme»- Redaktorin und lebt in ihrem Wohnmobil.