«Diese Nachlässigkeit kann man ihm vorwerfen»
30.07.2021 Leichtathletik, SportJürg Gohl
Herr Wiedmer, Olympische Spiele ohne Zuschauer, dazu in einem ungeraden Jahr. Was geht da in einem Athleten vor? Können Sie sich in die Olympia Teilnehmenden hineinversetzen?
Hans-Ruedi Wiedmer: Wir kennen die Situation in ...
Jürg Gohl
Herr Wiedmer, Olympische Spiele ohne Zuschauer, dazu in einem ungeraden Jahr. Was geht da in einem Athleten vor? Können Sie sich in die Olympia Teilnehmenden hineinversetzen?
Hans-Ruedi Wiedmer: Wir kennen die Situation in Corona-Zeiten bereits vom Fussball. Für eine Athletin oder einen Athleten ist es bestimmt nicht das gleiche Erlebnis. In einem leeren Stadion zu diesem Höhepunkt anzutreten, ist eigenartig. Dazu kommt erschwerend die latente Angst, sich trotz aller Vorsicht doch irgendwie anzustecken. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Es besteht auch die Gefahr, dass Wettbewerbe abgesagt werden müssen.
Auch das Leben im Athletendorf, von dem alle schwärmen, die es je miterlebten, fällt weg.
Das ist nicht mehr so wie 1968 in Mexiko, als wir als Delegation geschlossen an- und abreisten. Heute herrscht ein Kommen und Gehen unter den Athletinnen und Athleten, wie ich es der Presse entnehme. Eröffnungs- und Schlussfeiern sind für alle im Stadion ein unvergessliches Erlebnis. Das ist in Tokio nun auch speziell. Leid tun mir die Veranstalter.
Wie verfolgen Sie selber die Spiele?
Sicher werde ich bei den Leichtathletik-Wettkämpfen vor dem Fernseher sitzen. Wegen der Zeitverschiebung entscheide ich spontan, was ich live und was ich verspätet schaue. Das ist ja heute im Gegensatz zu Mexiko vor 53 Jahren problemlos möglich.
Wenige Tage vor seinen Starts in Tokio hat Alex Wilson erfahren, dass er nicht teilnehmen kann. Was muss in ihm vorgehen?
Die breite Öffentlichkeit dürfte die Doping-Mitteilung überrascht haben. Schnell ist der vermeintliche Zusammenhang mit dem Fabellauf in Atlanta hergestellt. Für Alex hingegen (im ganzen Gespräch nennt ihn Wiedmer beim Vornamen, Anm. d. R.) dürfte die neue Ausgangslage nicht ganz unvorbereitet gewesen sein. Offenbar hat das Hin und Her über seine Doping-Sperre ja schon im Frühjahr begonnen. Mich erstaunt, wie locker er in ersten Interviews nun mit der Situation umgeht. Er ist von seiner Unschuld überzeugt und ficht das Urteil zusammen mit Anwälten an.
Welche waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vor zwei Wochen von Wilsons Fabelrekord erfuhren?
«Wow, wahnsinnig!», fuhr es mir durch den Kopf. Alex arbeitet wirklich hart und ordnet dem Spitzensport alles unter. Das hat er 2018 auch im «Nachtcafé» der «Volksstimme» klar zum Ausdruck gebracht. Wenn einer solchen Person ein Exploit gelingt, ist das grossartig. Inzwischen hat sich aber viel geändert.
Der vermeintliche Rekordlauf gelang ihm aus dem Nichts. Hätte Sie das nicht stutzig machen müssen?
Natürlich fiel der Rekord nach seinem verhaltenen Saisonstart überraschend. Er war selber überrascht, fand aber plausible Gründe für seine Zeit: der neue Schuh, die schnelle Bahn und die idealen Windverhältnisse.
Dagegen spricht, dass seine Gegner zu schwach waren, um ihn zum Rekordlauf zu treiben. Der Zweite kam über eine Sekunde nach Wilson ins Ziel.
Das spielt im 100-Meter-Sprint keine grosse Rolle. Da startest du, gibst alles, was du in den Beinen hast, und realisierst kaum, was links und rechts geschieht. Im Gegenteil: Hast du einen Gegner im Augenwinkel, kann es passieren, dass du dich versteifst. Das erlebte ich oft. Bei einem Lauf über 200 Meter ist es anders. Man kann vom Feld der Gegner profitieren, weil diejenigen, die innen starten, die vor ihnen startenden Läufer in der Kurve im Blickfeld haben.
Inzwischen sind Gedankenspiele zu den Rekorden überflüssig: Sämtliche Verbände haben die Zeiten aus ihren Büchern gelöscht. Ihnen ist einst dasselbe passiert.
In Lausanne lief ich an einem Meeting einmal die 200 Meter in etwas mehr als 20 Sekunden. Eine Fabelzeit. Ich befand mich in Topform und der Lauf geriet mir nach Wunsch. Doch dann wurde hinterher festgestellt, dass die Startblöcke um fünf Meter zu weit vorne gesetzt waren. Der Traum fiel in sich zusammen.
Wilson schien die Annullierung etwas lockerer zu nehmen als Sie damals. Den grösseren Wirbel löste ein Video aus, das ihn mit einem wegen Dopings gesperrten jamaikanischen Trainer zeigt. Nun wurde bekannt, dass es schon im März eine positive Dopingprobe gab. Halten Sie Wilsons
Erklärung mit dem Fleisch-Konsum für glaubhaft?
Einerseits ist bekannt, dass mit Hormonen kontaminiertes Fleisch in Amerika auf dem Markt ist. Als Spitzenathlet sollte man in Sachen Ernährung vorsichtiger sein als ein Normalbürger. Da kann man Alex eine Nachlässigkeit vorwerfen. Die niedrige Dosierung bei der Probe, die vermutlich auch zur Aufhebung der provisorischen Sperre in der Schweiz geführt hat, kann seine Rindfleisch-These unterstützen. Ich bin kein Doping-Experte und muss Gott sei Dank nicht über den Fall urteilen. Ich erinnere aber daran, dass es in anderen, ähnlich gelagerten Fällen wie zum Beispiel dem der Mittelstreckenläuferin Sandra Gasser in den späten Achtzigerjahren auch nicht zu Freisprüchen oder zur Aufhebung von Sperren gekommen ist.
Zur Person
jg. Der 76-jährige Hans-Ruedi Wiedmer hält mit seinen 10,2 Sekunden über 100 Meter noch immer den wichtigsten Kantonsrekord in der Leichtathletik. Diese Zeit lief er 1968 in Paris und qualifizierte sich damit für die Olympischen Spiele in Mexiko. Dort schaffte er es über 200 Meter in die Zwischenläufe. An der EM in Athen belegte er 1969 über 200 Meter mit 21,1 Sekunden den sechsten Schlussrang, erhielt dafür aber nicht die gebührende Beachtung, weil der andere Schweizer im Final, Philippe Clerc, im gleichen Rennen Europameister wurde. Seit mehr als einem Jahr lebt der Ur-Gelterkinder in Sissach.