«Die Reiserei ist gegen jede Logik»
10.06.2021 Fussball, SportDaniel Hofstetter
Am 1. Mai feierte Peter Rudolf von Rohr seinen 60. Geburtstag. Zahlreiche Glückwünsche haben den ehemaligen Spitzen-Schiedsrichterassistenten erreicht. Das wohl grösste Geschenk dürfte für ihn gewesen sein, das Jubiläum überhaupt ...
Daniel Hofstetter
Am 1. Mai feierte Peter Rudolf von Rohr seinen 60. Geburtstag. Zahlreiche Glückwünsche haben den ehemaligen Spitzen-Schiedsrichterassistenten erreicht. Das wohl grösste Geschenk dürfte für ihn gewesen sein, das Jubiläum überhaupt zelebrieren zu dürfen. Denn «ich hätte nie gedacht, dass ich neun Jahre mit dieser Geschichte überleben werde». Er meint damit eine Herzoperation im Jahr 2012, die nicht wunschgemäss verlief. Zehn Tage verbrachte er damals im Koma.
Seit dem Eingriff lebt er mit einer künstlichen Aorta. 2019 wurde ihm zudem ein Defibrillator eingesetzt, der «eingreifen soll, wenn ich ohnmächtig werde». Die Folgen der OP sind für Rudolf von Rohr eklatant. So darf er nicht mehr arbeiten, muss IV beziehen. Doch Rudolf von Rohr will keinesfalls jammern. Schliesslich «gibt es Schlimmeres. Beispielsweise wenn jemand Krebs hat und weiss, dass er gehen muss.» Dass ihn aber selbst so scheinbar banale Aktivitäten wie einen Anstieg hinaufzumarschieren «20 Jahre älter» erscheinen lassen, sei «schon frustrierend».
Ohne den VAR
Jahrelang beackerte der Rümlinger an der Seite von Spitzenschiedsrichtern wie Serge Muhmenthaler, mit dem er immer noch eine Freundschaft pflegt, oder Andreas Schluchter die Seitenlinie. Weiterhin gut in Erinnerung sind die grossen internationalen Auftritte. Er assistierte Muhmenthaler beim Champions-League-Qualifikationsspiel zwischen Dynamo Kiew und Rapid Wien (August 1996), beim Rückspiel des Finals des Uefa-Super-Cups 1996 zwischen Paris Saint-Germain und Juventus Turin (Februar 1997) sowie im Rahmen der Qualifikation für die WM 1998 beim Barrage-Spiel zwischen Italien und Russland (November 1997).
Es waren allesamt Spiele mit Zehntausenden Zuschauern, bei denen sehr viel auf dem Spiel stand – sowohl aus sportlicher wie finanzieller Sicht. Und bei all diesen Einsätzen war der Video Assistent Referee, der VAR, noch kein Thema. «Es gibt Gründe dafür und dagegen», meint Rudolf von Rohr diplomatisch. Die teilweise schwerwiegenden Folgen von Fehlentscheiden können minimiert werden. Aber «irgendwie ging im Schiedsrichterwesen etwas verloren». Ein gewisses Mass an «Selbstkompetenz», wie er es nennt, wurde den Unparteiischen genommen.
Von Rohr ist keineswegs unglücklich, musste er ohne den Videoassistenten auskommen. Auch hat der VAR wohl mehr Problemfelder aufgemacht, als er geschlossen hat. Insbesondere die Frage, wann der VAR eingreift und wann nicht, bewegt die Gemüter. Rudolf von Rohr erwähnt den Cupfinal von vor ein paar Wochen, als der VAR nicht einschritt, als Luzern-Torwart Marius Müller den St. Galler Lukas Görtler regelrecht niederfaustete: «Wenn du einen VAR hast und er da nicht eingreift, kannst du den VAR vergessen.»
Erschwerend kommen unverständliche Regelanpassungen wie beim Abseits oder beim Handspiel hinzu. Das Problem seien laut Rudolf von Rohr die Entscheidungsträger, die «meinen, sie müssten etwas verändern, das dem Fussball guttut. Dabei bewirken sie genau das Gegenteil.»
Überraschung an EM
Bedenken hegt der Ex-Referee auch hinsichtlich der anstehenden Europameisterschaft. Dass die Teams in ganz Europa herumreisen, sieht er wegen der anhaltenden Pandemie als problematisch an. «Ohne Covid-19 wäre es eine sympathische Idee. Aber angesichts der Pandemie ist die Reiserei gegen jede Logik.» Das Virus könnte zum mitentscheidenden Faktor avancieren, falls Spieler infiziert werden.
Es fällt von Rohr schwer, einen Favoriten zu nennen. Am ehesten traut er Frankreich oder Spanien den Titel zu. «Ich denke aber, es könnte dieses Mal einen Überraschungssieger geben.» Und natürlich müsse man Jogi Löws Mannschaft auf dem Schirm haben. Denn «die Deutschen können sich an solchen Turnieren zerreissen». Genau diese Mentalität vermisst er dafür bei den Schweizern. Deshalb ist er überzeugt, dass Granit Xhaka und Co. nach der Vorrunde bereits wieder die Heimreise antreten werden.
Nichtsdestotrotz ist die Vorfreude auf die EM gross. Vor allem, da man die Spiele im Free-TV anschauen kann. Ein Umstand, der keineswegs mehr selbstverständlich sei. Der immer grösser werdende Einfluss des Geldes ist dem Rümlinger ein grosser Dorn im Auge. «Die überhöhten Gehälter, die ungeheuren Ablösesummen. Das ist doch Wahnsinn!», findet er klare Worte. Auch sei es praktisch nicht mehr möglich, Spiele im frei empfangbaren Fernsehen zu verfolgen.
«Ich liebe den Fussball. Aber er hat sich enorm verändert. Aus meiner Sicht zum Schlechten. Der Sport ist nicht mehr für den normalen Fan aus dem Mittelstand», so Rudolf von Rohr. Er würde sich «weniger Geld, dafür mehr Menschlichkeit» wünschen, damit «der Fussball wieder freier wird».
So frei, wie er es im Amateurbereich ist. Für den 60-Jährigen ist es zwar äusserst zweifelhaft, die aktuelle Meisterschaft trotz der Pandemie zu werten. Das Fehlen einer kompletten Rückrunde sorge für «eine Verfälschung» zuungunsten der Teams im Abstiegskampf. Gleichwohl freue er sich, dass es auf den hiesigen Plätzen wieder losgeht. «Ich gehe sehr gerne Spiele von Bubendorf, Gelterkinden oder Oberdorf schauen. Das hat mir extrem gefehlt, am Wochenende einfach so an ein Spiel zu gehen.»