MEINE WELT
26.02.2021 GesellschaftQuerwaldein
Wir lieben den Winter. Ob er garstig kalt ist und märchenhaft weiss oder klimaneutral mild und leblos braun-grün, spielt keine Rolle. Winter bedeutet für mich und unsere Hündin in erster Linie freie Bahn bei unseren Trips durch den Wald. Die ...
Querwaldein
Wir lieben den Winter. Ob er garstig kalt ist und märchenhaft weiss oder klimaneutral mild und leblos braun-grün, spielt keine Rolle. Winter bedeutet für mich und unsere Hündin in erster Linie freie Bahn bei unseren Trips durch den Wald. Die Vegetation hat sich zurückgezogen und wir können uns problemlos durchs Unterholz bewegen. Dort, wo sich zwischen Frühling und Herbst ungezählte Arme ranken, den Weg versperren, an einem zerren, einen zurückhalten und mit ebenso ungezählten Kratzern und dem einen oder anderen Zeckenstich wieder unters Firmament entlassen, können wir jetzt lustwandeln.
So machen wir uns auf, mit guten Schuhen und Kleidern (ich) und guten Pfoten und Fell (sie) ausgerüstet, Proviant, Feldstecher und Taschenfotoapparat immer dabei, verlassen das Haus, dann das Dorf, später den Weg und gehen querwaldein. So domestiziert unsere Wälder auch sind, sind sie immer noch das Urnaturnächste, das wir im Jura aufsuchen können. Und sie sind so unermesslich reich an Schönheit und Staunenswertem, dass ich es vermutlich nicht zu beschreiben vermag. Ich will es trotzdem versuchen.
Zuerst einmal ist da diese gleichgültige Erhabenheit der Kreaturen, die wir Bäume nennen. Wenn man sich unter ihrem Blätterdach und zwischen ihren Stämmen bewegt, wird man nicht nur plötzlich klein und unwichtig, man wird auch ruhig und zufrieden. Die Akustik ist angenehm gefiltert, das Licht immer anders als beim letzten Mal. Und selbst wenn es nicht wissenschaftlich erwiesen wäre, dass Bäume eine beruhigende Wirkung haben, würde man es trotzdem spüren.
Wenn man sich Zeit nimmt, genauer hinblickt und der stummen Bildsprache des Waldes lauscht, offenbaren sich einem in dieser fantasieanregenden Fülle aus Formen und Farbtönen immer wieder kleine Schätze, Blickfänge, kuriose Eigenartigkeiten, verblüffende Spielereien und wundersame Kleinode der Kreation: seltsam geformte, bizarre oder an Symbole erinnernde Steine, Wurzeln, Löcher oder Wüchse, rätselhafte Spuren des Aufeinandertreffens der Elemente und eine Energie jenseits jeglichen menschlichen Sinns für System und Ordnung. Und sogar ein technologieversuchtes Wesen wie mich durchdringt dabei der Hauch der Erkenntnis, was sich hinter der Floskel, dass alles eins ist, verbirgt.
Den Blick über diese magische Welt schweifen lassend, wandern wir durch dieses Universum des steten Wandels, das unendlich viele unsichtbare Künstler mitgestalten in ihrem Streben nach Fortbestand und ihrer schlussendlichen Ergebung dem Tod und Zerfall, denen in diesem harmonischen Kreislauf nichts Unfreundliches anhaftet. Und der Gedanke, dass morgen schon alles wieder anders aussieht, hat etwas wohltuend Bescheidenes. Ich könnte endlos verweilen, ich …
Okay, ich gebe es zu: Ich spreche hier vor allem für mich – und weniger für unsere Hündin. Ihr Blick, der mich gerade wieder einmal aus meiner Schwärmerei geholt hat, sagt, wie es nur Hundeaugen ausdrücken können: «Komm jetzt bitte endlich!» Tut mir leid, ich muss weiter …
Patrick Moser (46) ist ehemaliger Redaktor der «Volksstimme» und heute Primarlehrer im Kanton Aargau sowie Sänger und Gitarrist bei «Lion Minds». Er wohnt mit seiner Familie in Anwil.