CARTE BLANCHE
12.01.2021 PolitikDamit kann ich (fast) alles erreichen
Fritz Sutter, Gemeindepräsident Reigoldswil, parteilos
Alle Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste. Was aber ist das Beste? Die Mittelschichten, die Akademiker und Kreativen: Sie wünschen ...
Damit kann ich (fast) alles erreichen
Fritz Sutter, Gemeindepräsident Reigoldswil, parteilos
Alle Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste. Was aber ist das Beste? Die Mittelschichten, die Akademiker und Kreativen: Sie wünschen sich, dass ihre Kinder das Gymnasium besuchen, damit diese hierarchisch nicht abrutschen. In der Schweiz wird die Matura dennoch nur von rund 20 Prozent der Jugendlichen erworben, obwohl sie als «Eintrittspass» zu den Hochschulen, als Königsweg zum Masterdiplom und zum Doktortitel, als Schlüssel für prestigeträchtige und einkommensstarke Berufe in der Ökonomie, der Juristerei und der Medizin gelten.
Wenn die schulischen Leistungen der Sprösslinge einem Übertritt ins Gymnasium im Wege stehen, nehmen Eltern für Privatunterricht und Prüfungsvorbereitung viel Geld in die Hand. Im Einzelfall geht es auch mittels Nachteilsausgleichsmassnahmen, um zum Ziel zu gelangen. Das Gymi muss sein, um jeden Preis könnte man meinen, auch wenn der Nachwuchs damit massiv unter Druck gerät.
Der elterliche Wunsch ist aber auch von der Sorge um das Wohl der Kinder befeuert: Wer das Gymi besucht, kommt in den Genuss einer verlängerten Jugend. Notendruck und Prüfungsstress gehören zwar zum Alltag der Mittelschülerinnen und -schüler, auch in der Freizeit, aber dieser umfasst auch «Bildungsfun» auf Exkursionen, Ausschlafen, Schwänzen und die Emotionalität des Klassenverbands.
Davon haben Lernende weniger. Deren Arbeitsalltage beginnen in der Regel frühmorgens – den Anweisungen der Berufsbildnern stets Folge leistend. Der Ernst des Lebens also! Die Lernenden bekommen ihn am eigenen Leibe zu spüren. So müssen sie mit 15 Jahren wissen, was aus ihnen dereinst werden soll, wo in der Berufswelt sie sich positionieren wollen, während die «Gymeler» sich eine Laufbahn als Chefärztin oder Schriftsteller ausmalen dürfen und im Notfall immer noch Geschichte studieren können.
Die Berufsbildung vereint alle Vor- und Nachteile der liberalen Schweiz. Wir müssen Sorge dazu tragen und unsere Hausaufgaben erledigen.
Das historisch gewachsene, duale Berufsbildungssystem der Schweiz ist ein gut funktionierendes Zusammenspiel von Wirtschaft und Gesellschaft. Einem derart gut eingespielten Modell, an dem sozusagen alle teilhaben und das einen Königsweg zu beruflicher Exzellenz in 240 verschiedenen Berufen darstellt, ist unbedingt Sorge zu tragen. Übrigens, dass sich so etwas nicht so einfach exportieren lässt, wie sich das manche Politiker wünschen, liegt auch auf der Hand.
Eine repräsentative Umfrage von «Swiss Skills» aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass das Image der Berufslehre in der Schweiz gestiegen ist. 60 Prozent der Befragten fanden, dass man mit einer Berufslehre die gleichen Aufstiegschancen haben kann wie mit einem Studium – das sind stolze 10 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Was dennoch nicht heisst, dass mehr Jugendliche eine Berufslehre absolvieren. Aber weshalb das?
Eine Herausforderung für die Berufsbildung orten Erziehungswissenschafter neben anderem, dass sich diese viel mehr um die Eltern bemühen sollte – sie haben nämlich den grössten Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder. Worauf warten wir also? www.werkberufe.ch
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.