«Das Kinderheim war mein Zuhause»
14.01.2021 Bezirk Sissach, Gemeinden, Gesellschaft, Serien, RegionLebensgeschichten | Ruth Sterchi (86) aus Seltisberg erzählt aus ihrem Leben
Eigentlich wollte Ruth Sterchi Handarbeitslehrerin werden. Leider war ihr das verwehrt. So wurde sie Wäscheschneiderin, dann Säuglingsschwester, und schliesslich fand sie ihre Bestimmung als ...
Lebensgeschichten | Ruth Sterchi (86) aus Seltisberg erzählt aus ihrem Leben
Eigentlich wollte Ruth Sterchi Handarbeitslehrerin werden. Leider war ihr das verwehrt. So wurde sie Wäscheschneiderin, dann Säuglingsschwester, und schliesslich fand sie ihre Bestimmung als Maltherapeutin.
Pia Lanz
Ruth Sterchi, geborene Sägesser, kam am 3. März 1934 in Langenthal zur Welt. Sie war das vierte Kind. Die Mutter starb bei Ruths Geburt und der Vater war Alkoholiker und wollte von dem neugeborenen Mädchen nichts wissen. Er war auch gar nicht in der Lage, sich um die vier Kinder zu kümmern. Ruths Geschwister kamen bei Pflegefamilien unter, sie selbst kam mit sechs Wochen ins Kinderheim Schoren in Langenthal.
Im Heim wohnten rund 40 Kinder und 7 Angestellte. Schwester Elisabeth war die sehr strenge Vorsteherin und für Ruth die Ersatzmutter.
Während des Krieges mussten die Kinder oft Alarmübungen machen und sich im Luftschutzkeller verstecken. Damit niemand weinte, nahm Schwester Elisabeth immer eine Tasse mit Würfelzucker mit. Die Kleinen durften dann am Zucker lutschen, damit sie ruhig blieben.
Das Aufwachsen im Heim
Die Regeln im Heim waren streng und die Strafen übertrieben hart, wie Ruth heute sagt. So durften die Kinder nur reden, wenn sie etwas gefragt wurden. Pünktlichkeit war ein Muss und im Haushalt musste mitgeholfen werden. Damit nachts absolute Bettruhe herrschte, wurden die Kinder unter vier Jahren an den Füssen und Händen mit Gurten an den Bettstäben angebunden.
Ruth litt unter der Krankheit «Hospitalismus». Dieser Begriff steht für psychische und körperliche Schäden bei Kindern, die über längere Zeit in Krankenhäusern oder Heimen untergebracht waren. Es fehlte ihr an emotionaler Wärme, Zuwendung und Anerkennung. Ruth hatte deswegen als Kind Einschlafstörungen, kaute ihre Fingernägel und nässte ein.
Rückblickend war es für Ruth trotzdem eine positive Zeit: «Das Kinderheim war einfach mein Zuhause!» Eine positive Erinnerung ist zum Beispiel das Weihnachtsfest: «Es war einfach einmalig schön», schwärmt Ruth noch heute. «Diese wunderbare Stimmung und Atmosphäre!» Für die Kinder gab es nach der Feier Kakao und Zopf. Später assen die Erwachsenen ihr Festessen mit «Schüfeli». Die grossen Mädchen durften bei den Erwachsenen mitessen.
Auslandsaufenthalt in England
Mit 16 Jahren begann Ruth eine Lehre als Wäscheschneiderin in der Klinik Wysshölzli in Herzogenbuchsee. Aber ihr Traum, Handarbeitslehrerin zu werden, platzte bald. Denn das Geld für das Seminar wurde von der sozialen Fürsorge nicht bezahlt. Während der ganzen Lehre gab es keinen Lohn und kein Sackgeld. Ruth lebte darum nach wie vor im Heim.
Mit 27 wollte sie aber etwas anderes sehen und ging als Au-pair nach London. Über ihren Aufenthalt in London sagt Ruth: «Ich wurde ausgenutzt.» Zweimal wechselte sie den Arbeitsplatz, doch es wurde nicht besser. «Ich war einfach deren Putzfrau.» Sie entschied, Kinderkrankenschwester zu werden, und fand noch von England aus eine Lehrstelle in der Schweiz.
Heirat, Haus und Kinder
Im zweiten Lehrjahr im Säuglingsheim Elfenau in Bern lernte Ruth ihren zukünftigen Ehemann Rolf kennen. Es war keine verrückte, jugendliche Verliebtheit. Rolf war schon mal verheiratet, geschieden und bereits Vater der dreijährigen Astrid. Die Beziehung war eher vernünftig und rational. Ruth beendete ihre Lehre erfolgreich. Im April 1969 heirateten die beiden.
Gleich nach der Hochzeit zog die kleine Astrid zu ihnen. Rolf wollte, dass Ruth ihren Beruf aufgibt – sein Arbeitgeber wolle das so, war seine Begründung.
Im Jahr darauf, also 1970, baute sich das Paar ein Haus in Seltisberg. Im Juni desselben Jahres kam der kleine Bernhard zur Welt. Und im November war bereits der Zügeltermin ins neue Haus. Rolf war vor und nach dem Umzug auf Geschäftsreise. Ruth fühlte sich allein gelassen. Es gab Zeiten, da war ihr Mann 21 Wochen im Jahr weg; oft auch 4 Wochen am Stück.
Lernen, Nein zu sagen
Ende der 1970er-Jahre entschloss sich Ruth, eine vierjährige Ausbildung zur Maltherapeutin zu machen. Es handelte sich dabei um einzelne Lernmodule, die sie an verlängerten Wochenenden belegte. Ruth wurde schnell bewusst, dass sie hier primär ihre eigene Geschichte aufarbeitete.
Sie habe sich in dieser Zeit sehr verändert, erzählt sie. Sie gewann an Selbstsicherheit. Sie lernte, Nein zu sagen zu Entscheidungen, die andere für sie trafen.
Geschichte für die Enkelin
Ruth und Rolf leben noch heute in ihrem Haus in Seltisberg. Ruths grosse Leidenschaft ist ihr Garten. Nebenbei macht sie gerne Collagen und sie liebt es, das Zuhause schön zu gestalten.
Isabella, die Tochter von Bernhard, ist Ruths einzige Enkelin und 14 Jahre alt. Ihretwegen hat sich Ruth auf das Abenteuer eingelassen, die eigene Lebensgeschichte aufschreiben zu lassen. Denn Grossmutter Ruth will Isabella eine bleibende Erinnerung in Buchform schenken.
Zur Serie
vs. Die ehrenamtliche Gelterkinder «Schreibgruppe Lebensgeschichten» begleitete ein halbes Jahr lang sieben Seniorinnen und Senioren aus dem Oberbaselbiet. Unter der Leitung von Karin Viscardi und Remo Schraner entstand ein Sammelband. In der «Volksstimme» lesen Sie in losen Abständen kleine Ausschnitte daraus.