«Die nächste Epidemie kommt bestimmt»
26.11.2020 SissachMit einem Langzeit-Monitoring der Antikörper-Entwicklung ermittelt das Schweizerische Tropen- und Public-Health-Institut die Ausbreitung des neuen Coronavirus. Mit einem Bus gehen die Verantwortlichen zu den wenig mobilen Studienteilnehmern. Gestern machte er halt in ...
Mit einem Langzeit-Monitoring der Antikörper-Entwicklung ermittelt das Schweizerische Tropen- und Public-Health-Institut die Ausbreitung des neuen Coronavirus. Mit einem Bus gehen die Verantwortlichen zu den wenig mobilen Studienteilnehmern. Gestern machte er halt in Sissach.
Tobias Gfeller
Immer wieder bleiben Passantinnen und Passanten in der Sissacher Begegnungszone stehen und lesen interessiert, was auf dem Bus neben der Kantonalbank steht. Drinnen reibt sich Rudolf Heckendorn kräftig die Hände. «Sie müssen schön warm sein, dass genügend Blut kommt», sagt Pflegefachfrau und Studienassistentin Cornelia Devonas. Doch das Blut des Buckters will nicht so recht. «Sie sind etwas geizig zu uns», sagt Devonas mit einem Lachen, während sie das wenige Blut von der Fingerkuppe aufzieht. Anschliessend folgt die Blutentnahme über die Vene in der Armbeuge. Die Medizinische Praxisassistentin und Studienassistentin Kristina Hoffmann assistiert. Dieses Mal läuft alles reibungslos.
Rudolf Heckendorn nimmt das Prozedere gelassen auf sich. «Das ist alles kein Problem. Ich bin Rentner, ich habe Zeit.» Heckendorn wurde vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) mit Sitz in Basel angefragt, ob er an der Studie zu Antikörpern des Coronavirus und des psychischen Befindens während der Pandemie teilnehmen würde. Er musste nicht lange überlegen: «Man kann nicht immer nur kritisieren, sie machen es falsch. Man muss auch selber etwas dazu beitragen, damit mehr Fakten zu Corona bekannt werden.» Mit seiner Teilnahme an der Studie möchte er einen Beitrag für die Zukunft und die kommenden Generationen leisten. «Die nächste Epidemie kommt bestimmt», sagt Heckendorn trocken.
Mit der Studie «Covco Basel» ist das Swiss TPH Teil der gesamtschweizerischen Studie «Corona Immunitas». Neben dem Antikörpertest, der zeigen soll, wie stark sich das Virus in der Gesellschaft bereits verbreitet hat und ob nach einer Infektion tatsächlich eine Immunität vorhanden ist, geben Fragebögen Aufschluss über die Lebensumstände und das Wohlbefinden der Teilnehmenden.
Rudolf Heckendorn ist einer von 10 000 Personen, die für die Studie Covco Basel in den Kantonen Baselland und Basel-Stadt ausgewählt wurden. Nur jede siebte angefragte Person hat sich zu einer Teilnahme bereit erklärt. Das ist noch zu wenig, um am Ende ein repräsentatives Resultat zu bekommen. Die Personen wurden vom Bundesamt für Statistik zufällig ausgewählt. «Sie sollen ein möglichst genaues Bild der Gesellschaft zeichnen. Der Bus hilft uns, ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten», erklärt Studienleiterin Nicole Probst-Hensch. Alter, Geschlecht, Wohn- und Arbeitssituation sind nur vier von mehreren Faktoren, die dabei berücksichtigt wurden.
Der grosse Fragebogen zu Beginn der Studie dauert zum Ausfüllen eine gute Stunde. Im Verlauf des Studienjahres müssen die Teilnehmenden wöchentlich einen kleinen und monatlich ein etwas ausführlicheren Fragebogen ausfüllen. Das langfristige Monitoring betrifft nicht nur die Antikörper, ob sie vorhanden sind und wenn ja, ob sie auch bleiben. Es betrifft auch die Lebensumstände und die psychische Verfassung der Teilnehmenden. Auch Familien sind Teil der Studien. Denn noch immer ist nicht definitiv geklärt, inwiefern Kinder Treiber der Pandemie sind. Auch die Frage interessiert, wie stark sich das Virus in einer Wohneinheit verbreitet oder wie es den Familien insgesamt zu Pandemie-Zeiten geht.
Erkenntnisse für Entscheide
Im grossen Fragebogen gibt es auch sehr private Fragen zur psychischen Verfassung, der Wohnsituation, dem Freundeskreis, dem Lohn oder der Anzahl der Einkäufe pro Woche. «Ich habe mich teilweise schon gewundert, warum sie das wissen wollen», verrät Rudolf Heckendorn. Doch er habe alles gewissenhaft ausgefüllt. «Der Sache zuliebe. Je mehr Daten sie haben, umso besser werden die Erkenntnisse sein.»
Man wolle herausfinden, wie sich die Coronakrise auf die Lebensumstände und auf das Wohlbefinden auswirke, betont Nicole Probst. «Wie viele Menschen sind einsam, traurig und ängstlich geworden? Wer bewegt sich weniger oder wer macht mehr Sport als vor der Pandemie? Wie viele Menschen haben in der Isolierung ein Suchtproblem entwickelt? Wie viele Menschen haben seit Corona finanzielle Sorgen?» Sämtliche Erkenntnisse könnten künftig in politische Entscheide einfliessen.
Menschen fühlen sich einsam
Die Studie soll dem Bund Aufschlüsse geben, was er in menschlicher und psychischer Hinsicht in einer ähnlichen Krise beachten muss und wie er die Bevölkerung dabei unterstützen kann. Denn Corona ist weit mehr als Fallzahlen, Todesfälle und wirtschaftliche Einbrüche. Viele Schicksale verbergen sich dahinter.
Dies zeigt auch das Beispiel von Madeleine Brodbeck aus Wintersingen. Mit einer Vorerkrankung gehört sie zur Risikogruppe und lebt seit Frühling sehr zurückgezogen. Sie leide sehr unter der Situation, gibt sie unumwunden zu. Auch deshalb habe sie sich zur Studienteilnahme bereit erklärt. «Ich möchte meinen Beitrag leisten, dass wir möglichst schnell aus dieser Situation herauskommen und zurück zur Normalität finden können.» Sie wolle mithelfen, mehr Erkenntnisse zu gewinnen. Geduldig kaut sie während zweieinhalb Minuten auf dem Wattebausch, der ihren Speichel aufsaugt, der ebenfalls im Labor überprüft wird. Mit dem Blut aus den Kapillaren der Fingerspitze und direkt aus der Vene der Armbeuge werden in unterschiedlichen Verfahren unterschiedliche Erkenntnisse gewonnen.
Erste Erkenntnisse der Studie zeigen: Die Zahl der durchgemachten Ansteckungen zwischen August und Oktober scheint in den beiden Basler Halbkantonen weniger verbreitet als in der Westschweiz und im Tessin. Es fühlen sich mehr Menschen einsam und isoliert als vor der Pandemie. Beide Fakten sind keine Überraschungen: Aber ohne repräsentative Studie können diese Erkenntnisse nicht in künftige Entscheidungen miteinfliessen.