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26.06.2020 GesellschaftVom Reich der Mitte ins Zentrum des Universums
In den vergangenen fünf Jahren lebte ich in Paris, Schanghai und Peking. Die Schweizer Kleinstadt, die ich mir als meinen neuen Wohnort ausgesucht habe, hat knapp viermal so viele Einwohner wie Sissach. «Entweder man ...
Vom Reich der Mitte ins Zentrum des Universums
In den vergangenen fünf Jahren lebte ich in Paris, Schanghai und Peking. Die Schweizer Kleinstadt, die ich mir als meinen neuen Wohnort ausgesucht habe, hat knapp viermal so viele Einwohner wie Sissach. «Entweder man liebt sie, oder man war noch nie ausserhalb des Bahnhofs», las ich in einer Facebook-Gruppe von Ortsansässigen.
Ich weiss, was ein sonnenverwöhnter Oberbaselbieter denkt über das unscheinbare Städtchen jenseits der Jurakette. Deshalb schäme ich mich fast, zuzugeben: Ich mag die Dreitannenstadt. Umringt von bewaldeten Hügeln, in der Luft stets der Duft von Schokolade der nahen Lindt-Manufaktur. Ein Bistro an der Aare, wo die Abendsonne (sic!) die Feierabend-Geniesser in goldenes Licht taucht. Die Menschen sind gesellig, aufgeschlossen. Sie richten gerne ein paar freundliche Worte an die Neuzuzüger. Eine verschworene Gemeinschaft, zusammengehalten durch ihren süssen Dialekt und ein offenes Geheimnis: Schön ist’s hier, auch wenn diese Tatsache vom Rest der Schweiz verkannt wird.
Nicht, dass ich das Leben in der Stadt richtig kennengelernt habe in den vergangenen Wochen. War ja alles zu, auch die Möbelgeschäfte. Die leere, neue Wohnung wurde dann sogleich zum Homeoffice für meinen Mann und mich. Wenn wir telefonierten, hallte es. Er arbeitete am Esstisch auf dem Gartenstuhl, ich am Schreibtisch auf dem bequemen Bürostuhl. Er ist ein Gentleman.
In den darauffolgenden Wochen des Shutdowns füllten sich die viereinhalb Zimmer wie von alleine. Nach der Arbeit bestellte ich Möbel bei Ikea, oder schaute mir Fernsehserien längst vergangener Kaiserdynastien aus China an. «Hätte ich doch nur so einen eleganten chinesischen Raumteiler», sagte ich eines Abends im Spass. Nächste Woche stellte ein Nachbar genau einen solchen vor die Türe, goldplattiert, mit Kranichen, Zypressen und einem «Zum Mitnehmen»- Schild.
Jetzt steht ein Stück China in unseren vier Wänden. Dieser Tage kommt man ja um das Reich der Mitte sowieso nicht herum. Jedes Mal, wenn ich in den Zug steige und mir die Maske aufsetze, erlebe ich ein Déjàvu. In China gehört das Tragen der Masken zum Alltag: Sie filtert Feinstaub aus schmutziger Luft, wärmt im eisigen Winter das Gesicht, und schützt vor einer ungehinderten Verbreitung von Krankheitserregern. Wer sie trägt, signalisiert Höflichkeit und Respekt vor seinen Mitmenschen. Als Modeaccessoire gibt es sie in allen Farben, Formen und Schnitten.
Höchste Zeit also, dass mehr Menschen in der Schweiz ihre Skepsis gegenüber den praktischen Stoffdingern ablegen. Genauso wie ihre Skepsis gegenüber der Stadt Olten. Eine gute Freundin – auch eine Exil-Baselbieterin – begegnete im Ausgang einem stolzen Solothurner, der ihr Folgendes darlegte: Olten liegt im Zentrum der Schweiz, die Schweiz im Zentrum Europas, Europa im Zentrum der Welt, und die Erde im Zentrum unseres Sonnensystems. Olten – das Zentrum des Universums!
Katrin Büchenbacher ist ehemalige «Volksstimme»- Praktikantin. Nach mehreren Jahren Arbeit als Journalistin in China absolviert sie derzeit ein Volontariat bei der NZZ. Für die «Volksstimme» beschreibt sie, wie sie in der Schweiz wieder heimisch wird.