ZOOLOGISCH
30.06.2020 NaturEin Schneckenkönig bekommt Kinder
Daniel Zwygart
Schnecken sind äusserst erfolgreiche Lebewesen. Sie bevölkern seit rund 600 Millionen Jahren unseren Planeten und haben die Farnwälder, Meteoriteneinschläge und ...
Ein Schneckenkönig bekommt Kinder
Daniel Zwygart
Schnecken sind äusserst erfolgreiche Lebewesen. Sie bevölkern seit rund 600 Millionen Jahren unseren Planeten und haben die Farnwälder, Meteoriteneinschläge und Vulkanausbrüche überlebt. Schnecken unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von uns. Das Skelett ist aussen als Kalkhaus (falls sie noch eines haben), die Augen sind in den oberen Fühlern, sie kriechen auf einem Fuss, sind zwittrig und gehen im Gegensatz zu uns vieles in ihrem Leben mit grosser Geruhsamkeit an.
Die Weinbergschnecke hat es dem Menschen besonders angetan: Sie wurde seit je verspeist und ihr Gehäuse fasziniert Klein und Gross. In vielen Naturalienkabinetten finden sich solche, und einen speziellen Platz haben jeweils die Schneckenkönige. Dies sind Weinbergschnecken, deren Häuschen linksgewunden sind. 99,99 Prozent der Weinbergschneckenhäuschen sind nämlich rechtsgewunden.
Bei einigen Schneckenarten ist die Windung des Gehäuses genetisch bestimmt. Bei der Weinbergschnecke wusste man es bisher nicht. Da eine linksgewundene Schnecke sich nur mit einer ebensolchen paaren kann, liess sich dies bis anhin nicht so einfach testen. Anfang Juni 2020 erschien in einer renommierten englischen Zeitschrift die Geschichte von Jeremy, dem Schneckenkönig.
Jeremy – eine linksgewundene gefleckte Weinbergschnecke (Cornu aspersum) – lebte seit einiger Zeit in Nottingham. Mithilfe der Medien und der sozialen Netzwerke wurden 2016 unter #SnailLove Partnerinnen und Partner europaweit gesucht und tatsächlich ein paar wenige gefunden.
Nach einer Angewöhnungszeit begannen sie sich auf Schneckenart zu paaren: Dazu halten respektive kleben je zwei Weinbergschnecken ihre Füsse aneinander und rammen sich gegenseitig den rund 11 Millimeter langen Liebespfeil in den Fuss. Am Ende des mehrere Stunden dauernden Aktes erhält jedes Tier im besten Fall von seinem Gegenüber ein Spermapaket, das es in eine Samentasche aufnimmt und zur Besamung seiner Eier verwendet. Erst 2017 klappte es dann bei Jeremy und auch er legte Eier, aus denen Junge schlüpften. Diese waren alle, wie auch die Jungen der anderen Königspaarungen, rechtsgewunden. Jeremy sah seine Nachkommen noch wenige Stunden, bevor er starb. Das Internet trauerte und es gab sogar Totenballaden für Jeremy, den Schneckenkönig!
Die Forscher sind nun der Meinung, dass die Information zur Linkswindung bei dieser Schneckenart nicht genetisch bedingt ist, sondern infolge eines «Unfalls» in der Embryonalentwicklung entstand. Auch bei uns Menschen gibt es selten Personen mit seitenverkehrter Anordnung der inneren Organe – also zum Beispiel die Leber links, das Herz rechts und ein allenfalls entzündeter Blinddarm links. Solche «Situs-inversus-Fälle» werden nicht als königlich bezeichnet, aber in anatomischen Museen sind auch sie zu finden, so etwa im Anatomischen Museum in Basel. Abweichungen sind eben oftmals spannender als die Norm selber und tragen zum Verständnis der biologischen Komplexität bei.
Daniel Zwygart ist Biologe. Er unterrichtete während vieler Jahre am Gymnasium Liestal.