MEINE WELT
23.05.2020 GesellschaftTohuwabohu als Abenteuer
Ein Frühling zum Vergessen – oder wertvolle Zeit, die wir nicht missen möchten? Je nach Person und Persönlichkeit, Stellung in Leben und Beruf wird die Antwort unterschiedlich ausfallen. Noch sind wir nicht über den ...
Tohuwabohu als Abenteuer
Ein Frühling zum Vergessen – oder wertvolle Zeit, die wir nicht missen möchten? Je nach Person und Persönlichkeit, Stellung in Leben und Beruf wird die Antwort unterschiedlich ausfallen. Noch sind wir nicht über den Berg.
Die Menschen beginnen, Rückschau zu halten und vorwärts zu blicken. Das Geschehene zu beurteilen und das Künftige anzudenken. Die einen sind neugierig, ergebnisoffen und wissenschaftlich unterwegs, andere vorurteilsbeladen und besserwisserisch. Man denke an Verschwörungstheoretiker und Untergangspropheten.
Sicher ist: Wir erleben einmalig und live, wie die Wissenschaft an der Arbeit ist; wie die Wissenschaft Wissen schafft: als Ringen, Dialog, Streit und Wettstreit von Fachpersonen aus aller Welt, interdisziplinär, öffentlich ausgetragen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Entdeckungen, Erfindungen fallen nie vom Himmel: das Verstehen eines neuen Virus, ein Impfstoff oder Medikament, Erkenntnisse für künftige Pandemie- und Katastrophenfälle.
Gerade die – das ist für manche ärgerlich – unterschiedliche Weise, wie in Ländern Massnahmen umgesetzt werden, ist ein reiches Experimentierfeld für die Wissenschaft. Wir sind Teil einer weltweit lernenden Organisation, in «Try and Error» unterwegs. Für organisierte Belehrung durch Autorität ist es zu früh: Keiner kennt die Wahrheit und hat gesichertes Wissen. Das muss man einfach aushalten.
Als Theologe frage ich mich, wie dieser Frühling, der so viel Leid gebracht hat und bringt, der Unsicherheit und Angst generiert, vor Gott einzuordnen ist. Ist ein Virus auch Teil von Gottes Schöpfung? Die Bibel erzählt, wie in anfängliche Dunkelheit, in das Chaos der Welt durch Gottes Wirken Licht und Ordnung gekommen ist. Der ursprüngliche Begriff für dieses Chaos lautet «Tohuwabohu». Luther hat das mit «die Erde war wüst und leer» übersetzt. Gemeint ist heilloses Durcheinander, Wirrwarr. In Mundart würde ich von einem «Mega-Ur-Puff» sprechen.
Die Schöpfung war nicht nach sieben Tagen fix und fertig. Sie ist ein andauernder Prozess, im Wandel durch die Zeit, in Werden und Vergehen. Gottes Gegenüber ist nicht das Nichts, sondern noch immer Dunkelheit und Chaos. Vielleicht ist das aktuelle Virus diesem Dunkeln zuzuordnen, wer weiss – es stiftet Chaos, weil aus Chaos geboren? Ein ergebnisoffenes Nachdenken des Glaubens, jenseits aller Naturwissenschaft. Das muss man mögen – und aushalten.
Bertrand Piccard, Visionär, Flugpionier und Psychiater, schreibt in seinem neusten Buch über schwierige Zeiten im privaten und öffentlichen Leben: «Eine Krise, die man annimmt, ist ein Abenteuer.» Krisen können Menschen aus Trägheit und Risikovermeidung holen. Sie führen zu intensivem Erleben, zu Höchstleistung, Innovationsschüben und zuletzt: Dankbarkeit und Demut.
Dieser Gedanke gefällt mir.
Matthias Plattner (57) ist Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Sissach-Böckten-Diepflingen-Itingen-Thürnen.