«Die Langzeitpflege erfordert einen langen Atem»
08.11.2019 GesellschaftMit der Pflege von Angehörigen ändert sich häufig auch das Leben der Pflegenden komplett – ein Spagat zwischen Fürsorge und Überforderung. Im Interview sprechen Sandra Feigenwinter und Beatrice Frey über ihren Alltag, seit sie den Vater pflegen.
Nelly ...
Mit der Pflege von Angehörigen ändert sich häufig auch das Leben der Pflegenden komplett – ein Spagat zwischen Fürsorge und Überforderung. Im Interview sprechen Sandra Feigenwinter und Beatrice Frey über ihren Alltag, seit sie den Vater pflegen.
Nelly Anderegg
Wer möchte nicht im Alter zu Hause bleiben? Dieser Wunsch besteht auch dann weiter, wenn der Alltag nicht mehr alleine und selbstständig bewältigt werden kann. Nicht selten wird die Pflege dann durch Angehörige übernommen. Auch der Vater von Sandra Feigenwinter und Beatrice Frey äusserte nach seinem Spitalaufenthalt den Wunsch, wieder in die eigenen vier Wände zurückzukehren. Im Interview sprechen die Schwestern über die emotionale und körperliche Belastung, welche die Pflege zu Hause mit sich bringt.
Frau Feigenwinter, Frau Frey, Angehörige, die nicht pflegen wollen oder können, gelten in der als egoistisch. Kennen Sie diesen Druck?
Frey: Nein, eigentlich nicht. Im Gegenteil. Viele sagen uns, dass sie selber diese Pflege wohl nicht zu leisten imstande wären. Natürlich spüren wir auch einen Druck. Als Familienoberhaupt erhofft sich unser Vater, diese Pflegeleistung von uns zu erhalten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er erlebt hat, wie man früher im Mehrgenerationenhaushalt bis zum Tod füreinander da war. Wir haben das als Kinder selber bei unseren Grosseltern miterlebt.
Wer ist in die Pflege Ihres Vaters eingebunden?
Feigenwinter: Den Grossteil der Pflege leistet unsere 84-jährige Mutter. Sie pflegt unseren Vater rund um die Uhr. Wir als Töchter entlasten sie, so gut wir können. Das tun wir täglich. Auch unsere Ehemänner leisten ihren Einsatz. Von Anfang an wurden wir von der Spitex unterstützt. Zu unserer Entlastung kommt sie nun täglich am Morgen.
Welche Pflege benötigt Ihr Vater?
Frei: Die jetzige Pflegesituation besteht nun seit rund einem Jahr. Durch eine Verengung des Lendenwirbelkanals ist unser 90-jähriger Vater auf den Rollstuhl angewiesen. Ein kurzes Aufstehen durch Festhalten ist ihm noch möglich. Diese stark eingeschränkte Beweglichkeit erschwert die Pflege enorm und lässt uns schon mal an unsere eigenen körperlichen Grenzen stossen. Dank des Dauerkatheters und unserer Mithilfe kann unser Vater noch zu Hause wohnen. Jeweils am Abend geht einer von uns gegen 23 Uhr vorbei und macht ihn bettfertig. Das dauert rund eine Stunde. Am Morgen hilft die Spitex dann beim Aufstehen. Ansonsten schauen wir auch während des Tages nach dem Rechten. Diese Pflege können wir nur bewerkstelligen, weil wir im gleichen Dorf wohnen.
Wieso geht er so spät ins Bett?
Frei: Unsere Eltern sind seit jeher beide Nachteulen. Am liebsten würden sie noch später ins Bett gehen. Wir haben uns auf 23 Uhr geeinigt. Kommt noch dazu, dass sich unser Vater im Bett nicht selber umlagern kann. So liegt er mehr oder weniger die ganze Nacht über in der gleichen Schlafposition. Da kann die Nacht schon mal lang werden.
Können Sie da noch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen?
Feigenwinter: Neben der eigenen Familie und der Pflege unseres Vaters ist es schwierig, einer regelmässigen Tätigkeit nachzugehen. Das hat finanzielle Konsequenzen. Das Einkommen fehlt uns jetzt und auch später in der Altersvorsorge. Hier sind weitreichende politische und gesellschaftliche Veränderungen nötig, auch wenn diese mit Kosten für den Staat verbunden sind.
Beim Pflegen kommt man sich sehr nahe. Ist körperliche Nähe schwierig?
Feigenwinter: Das war anfänglich eine ungewohnte Situation für uns. Den Vater nackt zu sehen, war neu und mit Schamgefühlen behaftet. Wir haben Glück, dass einer unserer Ehemänner als Pflegefachmann tätig ist. Er übernimmt das Waschen der Intimzone, zum Vorteil aller Beteiligten.
Ist die Pflege eine Belastung für das Familienleben?
Frey: Ja, das wirkt sich sicher auch auf das Zusammenleben aus. Da bleibt auch ein Streit nicht aus. Wer wann und wie viel pflegt, ist ein Thema, das wir untereinander diskutieren. Wir sind fünf Geschwister. Für uns ist es aber klar, dass nicht jedes von uns gleich viel Zeit in die Pflege des Vaters investieren kann. Unsere Brüder sind beruflich sehr eingespannt, unsere Schwester wohnt weiter weg.
Gibt es ein Ausstiegszenario?
Feigenwinter: Wir sind in die Pflege unseres Vaters mehr oder weniger hineingeschlittert. Beim Spitalaustritt vor einem Jahr war sein Zustand schlecht. Wir mussten auch damit rechnen, dass er sich nicht mehr erholt. Deshalb haben wir uns auf eine Kurzzeitpflege eingestellt. Die jetzige Situation ist eine ganz andere. Unser Vater ist wieder zu Kräften gekommen und geistig sehr fit. Nun sind wir in der Langzeitpflege. Diese bringt uns manchmal an die eigenen körperlichen und emotionalen Grenzen. Ein Ausstiegszenario gibt es nicht. Einen Übertritt ins Alters- und Pflegeheim lehnt er ab. Leider hat er diesbezüglich im Ferienbettzimmer keine guten Erfahrungen gemacht. Also denkbar schlechte Voraussetzungen, um dieses Thema wieder anzuschneiden. Vielleicht kommen wir aber nicht darum herum.
Welche Sorgen und Nöte plagen Sie als pflegende Angehörige?
Frey: Pflegende Angehörige haben keine Lobby. Diese Arbeit wird im Stillen verrichtet. Der Spagat zwischen Fürsorge und Überforderung in der Langzeitpflege geht an die Substanz und erfordert einen langen Atem. Wenn wir an unsere Grenzen und Möglichkeiten stossen, könnte es schlimmstenfalls passieren, dass wir gezwungen wären, für unseren Vater unerwünschte Massnahmen umzusetzen. Entlastungsangebote könnten dafür sorgen, dass sich die Situation gar nicht erst zuspitzt. Das Angebot einer Abend- und Nachtspitex gibt es in unserem Spitex-Kreis nicht. Dies wäre eine grosse Erleichterung für uns.
Welches sind die schönen Momente, wenn Sie Ihren Vater pflegen?
Frey: Wenn wir sehen, wie zufrieden er zu Hause leben kann. Abends liegt er im Bett und bedankt sich für unseren Einsatz. Das tut er immer. Das sind die schönen Augenblicke, die wir erleben. Ebenso ist es die gemeinsame Zeit, die wir in Erinnerung behalten, wenn er dereinst nicht mehr lebt.
Was denken Sie, was ist das Wichtigste für einen guten Lebensabend?
Feigenwinter: Gesundheit und ein gutes soziales Umfeld. Freunde und Bekannte, die Abwechslung in den Alltag bringen. Institutionen mit Pflegepersonal, die sich Zeit für den Menschen nehmen und nicht nur die Grundbedürfnisse abdecken. Ein schneller und schmerzfreier Tod. Am liebsten zu Hause.