Mit dem Schwung von Zug ins nächste Jahrhundert
19.09.2019 Bezirk Sissach, Weitere Sportarten, Gelterkinden, Gesellschaft, SportDer Bezirksschwingklub Sissach besteht seit 100 Jahren und jubiliert am Samstag
Am Samstag feiert, keine vier Wochen nach dem «Eidgenössischen», der Bezirksschwingklub Sissach auf dem Dietisberg seinen 100. Geburtstag. Trotz einer noch nie dagewesenen Popularität ihrer Sportart kämpfen ...
Der Bezirksschwingklub Sissach besteht seit 100 Jahren und jubiliert am Samstag
Am Samstag feiert, keine vier Wochen nach dem «Eidgenössischen», der Bezirksschwingklub Sissach auf dem Dietisberg seinen 100. Geburtstag. Trotz einer noch nie dagewesenen Popularität ihrer Sportart kämpfen die Oberbaselbieter um jedes Aktivmitglied und damit um die Vereinsexistenz.
Jürg Gohl
Grösser könnte der Kontrast nicht sein: Rund eine Million Schweizerinnen und Schweizer sitzen am 25. August vor dem Fernseher und verfolgen den Schlussgang zwischen Christian Stucki und Joël Wicki. Vor einer Woche trainiert der Nachwuchs des Bezirksschwingklubs Sissach im Keller in Gelterkinden. Sieben der total zehn Jungschwinger sind zum Training erschienen und lassen die zweistündige Einheit mit Zweikämpfen ausklingen: Zwei Paare beharken sich jeweils im Sägemehl. Sie reichen sich vor und nach jedem Gang die Hand und alle, vom Knirps bis zum Präsidenten, duzen sich. So verlangt das die Tradition. Drei Jungschwinger sind jeweils in Warteposition, bis ein Platz frei wird.
Wobei korrekterweise auch von Jungschwingerinnen geschrieben werden muss: Johanna Saladin muss an diesem Abend ihr Geschlecht alleine vertreten, da Alexandra Gosteli fehlt. Frauen, die die Zwilchhose anhaben? Was vor einem Vierteljahrhundert noch undenkbar gewesen wäre, ist inzwischen Alltag. Weder für Johanna noch für ihre männlichen Kollegen stellt dies ein Problem dar, auch wenn die Kraftunterschiede nicht zu übersehen sind. «In meiner Schulklasse schaut mich niemand komisch an, weil ich schwinge», versichert die Jungschwingerin. Ihre männlichen Altersgenossen zieren sich ebenfalls nicht, wenn sie gegen ihre Kollegin kämpfen.
Die Trainingskämpfe werden aber nicht wegen eines Mädchens erschwert. Problematischer ist vielmehr, dass der Jüngste und Kleinste, Noë Arnold heisst er, sieben Jahre alt ist, Marius Meier als Grösster an diesem Abend aber bereits elf Jahre zählt. Während an den Schwingfesten der Aktiven stets darauf geachtet wird, dass einigermassen ebenbürtige Athleten im Sägemehl «zusammengreifen» und nie ein Favorit ein «Freilos» zugeteilt erhält, ist das im Training des gesamten Oberbaselbieter Nachwuchses unmöglich. Die Gruppe ist dafür schlicht zu klein.
Schlüsselerlebnis in Reichenbach
Wie das anders aussehen könnte, erfuhr der Nachwuchs im Frühjahr. Weil ihr Klub in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert, lud der Vorstand seine Hoffnungsträger am 5. März zu einem Ausflug ein. Das Programm sah dabei auch ein gemeinsames Training beim befreundeten SK Reichenbach vor. Die acht jungen Gäste aus dem Oberbaselbiet mussten dabei gleich doppelt staunen: Zuerst warteten in der Trainingshalle gleich 40 Jungschwinger aus den dortigen Vereinen auf sie, danach leitete Silvio Rüfenacht, der Schwingerkönig des «Eidgenössischen» 1992 in Olten, das Training. Er ist als Überraschungsgast nach Reichenbach gekommen.
Zwar ist Rüfenacht lediglich die Nummer zwölf unter den inzwischen 16 Berner Schwingerkönigen, die es gemeinsam auf 23 Festsiege bringen. Doch für Oberbaselbieter ist das etwas Besonderes: Peter Vogt, der bisher einzige Baselbieter Schwingerkönig, kam aus Muttenz, und sein Sieg liegt inzwischen 71 Jahre zurück.
Nebenrolle für das Oberbaselbiet
Überhaupt stammten in den vergangenen Jahren die wenigen Spitzenschwinger der beiden Basel wie Clemens Jehle, Rolf Klarer und Jörg Schneider aus Basel oder der Agglomeration. Die beiden «Eidgenossen» (Gewinner eines eidgenössischen Kranzes) Ferdinand Christen (Läufelfingen, 1986 in Sion) und Damian Zurfluh (Buckten, 2004 in Luzern und 2007 in Aarau) sind aus Oberbaselbieter Sicht eher die Ausnahme als die Regel.
Unter den rund 280 Teilnehmern in Zug stammte kein einziger aus diesem Kantonsteil. Zudem kehrte niemand mit einem Kranz auf dem Kopf aus der Zentralschweiz ins Baselbiet zurück. Immerhin stand der 19-jährige Andrj Gerber aus Rothenfluh auf der Ersatzliste und dürfte, wenn in drei Jahren wieder eine Million vor dem Fernseher sitzen und dann nach Pratteln blicken, als stärkerer und erfahrenerer Athlet einen festen Platz im 30 Namen umfassenden Aufgebot der Nordwestschweizer haben.
Gerber, die derzeit grösste Hoffnung des Oberbaselbiets für 2022, schwingt für Liestal. Deshalb ruhen die leisen Hoffnungen des jubilierenden Bezirksschwingklubs Sissach auf dem 17-jährigen Cedric Rickenbacher aus Oltingen. Er holte sich schon Zweige, das entspricht bei den Jungen den Kränzen der Erwachsenen. Zudem gewann er bei den Jungschwingern in diesem Jahr das «Aargauer» und damit den Hauptpreis, ein Schaf – den Muni des Nachwuchses.
Doch nun wechselt Rickenbacher altersbedingt zu den Aktiven. Deshalb schaut er an diesem Abend dem Treiben der Jungschwinger nur zu und wartet, bis er sich hinterher mit Präsident Gerald Meier oder mit Leiter Michael Burtschi im Sägemehl messen kann. An Ehrgeiz fehlt es ihm nicht, und er besucht deshalb nicht nur die Trainings im Keller seines Vereins im Untergeschoss der Gelterkinder Mehrzweckhalle, sondern fährt auch nach Liestal, Möhlin und Hölstein, um sich mit idealeren Trainingspartnern zu messen.
Diagnose: oberflächliches Interesse
Präsident Gerald Meier aus Kilchberg kennt das Problem bestens. Sein Verein zählt zwar 190 Mitglieder, die 10 Jungschwingerinnen und -schwinger nicht mitgezählt. Ins Sägemehl wagen sich aber höchstens 20 von ihnen, und nur vier nehmen an Wettkämpfen teil. «Alle reden in diesen Tagen vom Schwingen», sagt Meier, «und wenn wir wie kürzlich am Ebenraintag in der Öffentlichkeit mit unseren Jungen trainieren, schaut man uns interessiert zu. Doch in den Keller wagt sich dann niemand.» Der 42-Jährige, den einst ein Freund in den Schwingkeller mitgenommen hat und der nun seit 15 Jahren dem Verein vorsitzt, diagnostiziert ein «oberflächliches Interesse».
Der Präsident wagt deshalb auch keine Prognose, ob sein 100 Jahre alter Verein auch in 25, 50 oder 100 Jahren noch Jubiläen feiern wird. Er tröstet sich mit der Feststellung, dass sein Verband, der eigentlich ein Verein ist, schon mehrmals vor dem Aus gestanden habe und es gleichwohl immer weitergegangen sei. «Wir stehen mit diesem Problem nicht alleine da», stellt Meier fest, «während Schwingen im Bernbiet und in der Innerschweiz bei den Jungen richtiggehend boomt, gibt es bei den Baslern derzeit keinen einzigen Aktiv-Schwinger, im Tessin, den französisch sprechenden Kantonen und im Wallis läuft fast nichts, und selbst die Ostschweizer müssen aufpassen.»
Idee einer Trainingshalle
Die fünf Baselbieter Vereine – Binningen, Liestal, Muttenz, Oberwil und Pratteln – sowie die beiden Bezirksschwingklubs Sissach und Waldenburg sind sich der Situation bewusst und spannen deshalb, wie das Beispiel von Cedric Rickenbacher zeigt, bei den Trainings zusammen. Meier würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Nach seinem Besuch in Reichenbach fragt sich Meier: «Wer begibt sich heute schon gerne in einen dunklen Schwingkeller? Wieso bauen wir uns nicht gemeinsam eine zeitgemässe Schwinghalle?»
So gesehen wirkt das Plakat, das in der Trainingsstätte über den Köpfen seiner «Kellerkinder» und über den aufgehängten Zwilchhosen angebracht ist, wie eine kleine Bitte: «Auf Wiedersehen» steht darauf. Die Oberbaselbieter Schwinger hoffen zudem, dass das bevorstehende «Eidgenössische» im eigenen Kanton mithilft, ihre Sportart via Medien populär zu halten, und so den einen oder die andere dazu ermuntert, den Schritt vom Fernsehzimmer in den Sägemehlring zu wagen. «Pratteln» eröffne die Chance, dass sich Schwingen bis Ende August 2022 bei uns zum Dauerthema entwickelt, denkt Meier.
Jubiläumsprogramm geheim
An den Finanzen dürfte die Idee mit der oberirdischen Trainingshalle nicht scheitern. Denn in den Schwingklubs wird ehrenamtlich gearbeitet, und dank der vielen Passivmitglieder und der riesigen Sympathien ist man im Sägemehl auf Rosen gebettet. «Für unseren Verein gilt das allerdings nur bedingt», schränkt Meier ein. Den 100. Geburtstag lässt sich der Verein halt etwas kosten.
Was die Gäste am offiziellen Jubiläumsanlass vom Samstag auf dem Dietisberg zwischen Eptingen und Läufelfingen alles erwartet, kann Gerald Meier nicht sagen. Versprochen sind lediglich viele Überraschungen. Die Organisatoren, angeführt vom Läufelfinger Matthias Graber, dem Technischen Leiter des Kantonalverbands, halten sich dem Präsidenten gegenüber sehr bedeckt. Er solle den Abend geniessen und auf das Erreichte stolz sein.
«Nach dem unseligen Krieg …»
jg. Der Bezirksschwingklub Sissach, der sich trotz seines Namens nicht aus mehreren Vereinen zusammenschloss, wird am 1. Juni 1919 offiziell gegründet – «nachdem der unselige Weltkrieg zu Ende ist». So heisst es gleich zu Beginn der Gründungsurkunde. Man wolle das Turnen und insbesondere das Schwingen pflegen, steht weiter im Dokument. Die Verbindung zum Turnen wird auch mit einer Fotografie dokumentiert, auf der die drei Gründerväter – Tschudi Gusti, Beglinger Heinrich und Hunziker Fritz – stramm und im weissen Leibchen der Turnerschwinger abgebildet sind. Gotti Schaub aus Sissach ist der erste Präsident.
Interessant ist der Satz zum Ziel des heute hundertjährigen Vereins. «Ein jeder Jüngling, der Freude am Schwingen hat», sei willkommen im Klub. Dieser verfolge das Ziel, «das Schwingen auch im oberen Baselbiet zu fördern». Daraus lässt sich lesen: Schwingen ist beileibe keine Sportart, die seit Urzeiten im ländlichen Gebiet betrieben wurde.
Das Startkapital beschafft sich der Vorstand, indem er bei der Gründungsversammlung einen Spendenteller zirkulieren lässt. Die 23 Anwesenden, die aus den Gemeinden Rothenfluh, Diegten, Anwil, Hemmiken, Ormalingen, Wintersingen, Läufelfingen und Sissach kommen, legen 16 Franken zusammen. Ob darin die im Gründungsprotokoll eigens erwähnten 10 Franken, die «unser Turnfreund Koch Fritz im Bären Sissach in unsere kleine Kasse stiftete», bereits enthalten sind, erschliesst sich aus dem Schriftstück nicht.
Rolf Klarer: «Tolle Kämpfe und viel Zusammenhalt»
jg. Rolf Klarer, der vierfache «Eidgenosse» der Basel-Städter und nun Mitglied des Kern-OK des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfestes in Pratteln 2022, erinnert sich gerne an die Schwinger aus dem Oberbaselbiet. «Wir trugen viele packende Kämpfe aus und pflegten stets ein gutes Verhältnis, nicht nur weil wir als kleinere Kantonalverbände zusammenhalten mussten.» Dass er aus diesen Gängen meist als Sieger hervorging, behält er natürlich für sich. Klarer, der 1991 das Bundesfeierschwingfest im 1. Rang abschloss, gratuliert dem Jubilaren herzlich und bedankt sich für den nicht immer leichten Einsatz für das Schwingen. Er wünscht den Sissachern: «Das vergangene ‹Eidgenössische› in Zug und das nächste bei uns in Pratteln mögen dazu beitragen, dass den jubilierenden Verein in den nächsten 100 Jahren keine Nachwuchssorgen mehr plagen.»
Thomas Weber: «Sport und Tradition»
jg. Regierungsrat Thomas Weber ist als OK-Präsident des Eidgenössischen Schwingund Älplerfestes 2022 in Pratteln selber Mitglied des jubilierenden Vereins. «Aber nicht aktiv», wie er betont. Er möchte es dennoch nicht unterlassen, seinem Klub zu gratulieren. «100 Jahre Sport und gelebte Tradition aufrechtzuerhalten, ist eine Leistung», sagt der Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektor aus Buus, «es wird viel für den Nachwuchs geleistet, und diese Aufbauarbeit ist in jedem Verein unerlässlich.» Weber erwartet, dass die Vorfreude auf das «Eidgenössische» in drei Jahren auch dazu beitragen kann, dass sich mehr Jugendliche in den Schwingkeller wagen. «Es wäre mir eine Freude, wenn in Pratteln zwei oder drei Schwinger aus dem Oberbaselbiet im Sägemehl stehen würden. Sollte das nicht reichen, dann spätestens 2025 in St. Gallen.»