HERZBLUT
10.09.2019 GesellschaftKulinarischer Tiefflieger
Ein Fünfjähriger aus Deutschland isst nichts ausser roten Äpfeln und hartem Brot. Er hat eine selektive Essstörung. Als ich vor einiger Zeit über den Bericht über diesen Jungen gestolpert bin, machte er mich stutzig. ...
Kulinarischer Tiefflieger
Ein Fünfjähriger aus Deutschland isst nichts ausser roten Äpfeln und hartem Brot. Er hat eine selektive Essstörung. Als ich vor einiger Zeit über den Bericht über diesen Jungen gestolpert bin, machte er mich stutzig. Denn der einseitige Esser erinnerte mich an mich selbst.
Ohne meine Mutter hätte ich mich vermutlich bis weit ins Teenager-Alter hinein ausschliesslich von Schoggi ernährt. So gab es zwischendurch auch mal Kartoffeln, Fleisch und sehr, sehr viele «blutte» Teigwaren. Und ich war sehr zufrieden damit, solange ich nirgends zum Essen eingeladen war. Dann wurde es unangenehm. Denn die Frage: «Was, du isst kein Gemüse?», liess nie lange auf sich warten. Und dann kam ich in Erklärungsnot. Was aber viel schlimmer war: Ich bekam das Gefühl, ich sei die Einzige, die Gesundes nicht mochte. Trotzdem wurde bei mir zum Glück nie von einer Störung oder Krankheit gesprochen. Ich wurde höchstens als kulinarischer Tiefflieger bezeichnet.
Die Mutter des Fünfährigen sammelt derzeit Geld für eine Therapie für ihren Sohn, damit er bald mehr isst als hartes Brot. Und wie Sie sicher schon herausgehört haben, ist auch mein Speiseplan heute deutlich bunter als noch vor einigen Jahren. Bei mir hat das aber ganz ohne Therapie geklappt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich verspeise noch lange nicht alles. Rohes Gemüse ertrage ich zum Beispiel gar nicht. Beim Ausdruck «knackiges Gemüse» stellen sich automatisch meine Nackenhaare auf. Aber ich schlage mich ganz gut durch und probiere immer öfter etwas Neues aus. Wie es so weit kam? Ich hatte es satt, mich vor jeder Essenseinladung zu fürchten, aus Angst, dass ich nichts essen könnte. Die Fragen, die ich gestellt bekam, waren schlimmer, als einfach etwas Gesundes auf meinen Teller zu schöpfen und es zu essen. Ausserdem macht man weniger Drama, wenn man versucht zu verheimlichen, dass man etwas nicht mag, weil man es gerade zum ersten Mal probiert. Wenn Sie mich einmal beim Essen zur Salzsäule erstarren sehen, habe ich gerade etwas probiert, von dem ich nicht sicher bin, wie ich es jetzt runterbringen soll. Genauso oft habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass Brokkoli und Co. gar nicht so schlimm sind.
Eine Zeit lang (sie gab es bald wieder auf), versuchte meine Mutter mich dazu zu zwingen, jeden Mittag etwas zu probieren, das ich nicht mochte. Ich war jedes Mal heilfroh, wenn es Erbsen gab, weil ich die schlucken konnte, ohne zu kauen. Heute esse ich Erbsen ganz freiwillig.
Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass es den meisten Kindern so geht wie mir. Ausnahmen sind nicht die, die wenig Obst und Gemüse essen, sondern jene, die das freiwillig tun. Wenn Sie also ein Kind oder Enkelkind zu Hause haben, das sich weigert, Salat zu essen, lassen Sie es nicht am Tisch sitzen, bis es seinen Teller geleert hat. Ich denke nicht, dass das etwas bringt ausser schlechter Stimmung. Und glauben Sie mir, nie wird Ihr Kind so unbeschwert Pommes und Schokolade essen wie jetzt.
Michèle Degen, Redaktorin «Volksstimme»