CARTE BLANCHE
12.07.2019 Politik«Chancengesellschaft» verinnerlichen
Saskia Schenker, Landrätin und Präsidentin FDP Baselland, Itingen
Dieses Wort hat mich gepackt. Es stammt nicht von mir, sondern von der Website von Avenir Suisse, die unter diesem Titel ...
«Chancengesellschaft» verinnerlichen
Saskia Schenker, Landrätin und Präsidentin FDP Baselland, Itingen
Dieses Wort hat mich gepackt. Es stammt nicht von mir, sondern von der Website von Avenir Suisse, die unter diesem Titel eine Forschungsreihe führt. Was verstehe ich darunter? «Chancengesellschaft» – das bedeutet Ermöglichen und Wahlfreiheit. Das heisst, seinen Beitrag zu leisten für die Gemeinschaft und Chancen erhalten, egal in welcher Ausgangslage. «Chancengesellschaft», damit sind alle gemeint.
An der Lehrabschlussfeier für diverse Berufe wurde vergangene Woche ein junger Mann zusammen mit seinem Lehrmeister und seiner Familie geehrt. Er ist mit Trisomie 21 zur Welt gekommen. Seine Eltern wollten ihm eine Lehre ermöglichen und fanden für ihn eine Lehrstelle bei einem Gärtnereiunternehmen.
Der Unternehmer wagte den Versuch und stand letzte Woche gemeinsam mit seinem Lehrabgänger emotional gerührt vor dem Publikum. Er hat ermöglicht und handelte nach seiner Überzeugung, jedem eine Chance zu geben. Und er hatte Erfolg, gemeinsam mit seinem stolzen Lehrabgänger und dessen Familie. «Chancengesellschaft».
Die FDP verbrachte ihren Fraktionsausflug am 1. Juli auf dem Dietisberg. Hier wohnen Männer, die in der Gesellschaft wenig Chancen erhalten haben oder sogar ausgegrenzt wurden. Die Philosophie des Dietis bergs ist, das Gesunde im Menschen zu stärken, statt die Krankheit in den Vordergrund zu rücken. Das bedeutet, jedem eine Aufgabe zu geben und damit das Wissen, gebraucht zu werden. Der Dietisberg ist eine «Chancengesellschaft».
In der Sommersession debattierte der Ständerat die Initiative für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub. Der indirekte Gegenvorschlag enthält nun zwei Wochen. Alle sprechen von mehr Engagement der Väter und davon, wie viele Wochen es nun zusätzlich braucht. «Chancengesellschaft»? Das Modell Vaterschaftsurlaub zementiert alte Strukturen. Denn für die Arbeitswelt ist weiterhin klar: Die Frau fehlt nach der Geburt eines Kindes 14 Wochen, der Mann je nach Volksentscheid keine, deren zwei oder vier.
Die FDP reichte eine Motion für einen Elternurlaub ein. Der bestehende Mutterschaftsurlaub von 14 Wochen soll durch einen flexiblen 16-wöchigen Elternurlaub ersetzt werden: die ersten acht Wochen nach der Geburt sind für die Mutter reserviert, die weiteren acht Wochen können einvernehmlich auf beide Eltern verteilt werden. Werden sie sich nicht einig, sind der Mutter die heutigen 14 Wochen und dem zweiten Elternteil zwei Wochen zugesichert. Paare, die nach dem traditionellen Familienbild leben, wählen diese Lösung. Paare, die die Betreuungsarbeit je nach Lebenssituation und Bedürfnisse anders aufteilen möchten, haben diese Chance. Frauen und Männer haben auch als Arbeitnehmer die fast gleiche Ausgangslage, was mögliche «Fehlzeiten» nach der Geburt des Kindes angeht. Bis anhin hatte das Parlament jedoch kein Ohr für diese flexible Lösung.
«Chancengesellschaft» zählte hier nicht – da werden von Links bis Rechts Argumente wie Mutterschutz und traditionelle Rollenbilder hervorgeholt. Man traut der Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit der Eltern lieber nicht.
«Chancengesellschaft» – dieses Wort sollten wir hervorstreichen, im täglichen Handeln und in der Politik.
In der «Carte blanche» äussern sich Oberbaselbieter National- und Landratsmitglieder sowie Vertreterinnen und Vertreter der Gemeindebehörden zu einem selbst gewählten Thema.