Mehr als ein halbes Leben an der Seite der Bedürftigen
20.12.2018 Porträt, WittinsburgJürg Gohl
Im «Bürgin» erkennt man die auswärtigen Gäste sogleich. Beim Betreten der Wittinsburger Dorfbeiz rufen sie ein vorsichtiges «Grüezi mitenand» in den Saal, während der Einheimische ungeschaut mit «Salli zämme» grüsst und sich auf einen Stuhl fallen ...
Jürg Gohl
Im «Bürgin» erkennt man die auswärtigen Gäste sogleich. Beim Betreten der Wittinsburger Dorfbeiz rufen sie ein vorsichtiges «Grüezi mitenand» in den Saal, während der Einheimische ungeschaut mit «Salli zämme» grüsst und sich auf einen Stuhl fallen lässt. Welcher Kategorie ist der wache, aber ruhige Mann zuzurechnen, der so unauffällig vor seinem Wasserglas sitzt, dass es beinahe schon auffällt? Der Gast, der am Mittwoch seinen 76. Geburtstag feierte, zählt ebenfalls zu den «Witschbergern». Ja, er hat nie anderswo gelebt und ist – der Nachname lässt es erahnen – sogar Bürger der Gemeinde: Martin Zumbrunn.
Mit seinem Bürgerort hängt letztlich auch sein aussergewöhnliches Engagement für seine Wohngemeinde zusammen, das er per 31. Dezember beenden wird: Martin Zubrunn wird dann 48 Jahre lang der örtlichen Sozialhilfebehörde angehört haben und danach seinen Sitz zur Verfügung stellen. Bereits am 28. November wurde er an der Budget-«Gmäini» von Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher feierlich verabschiedet. Sie leitete damals umgekehrt ihre erste Versammlung in diesem Amt. Doch an jenem Mittwochabend Ende November standen nicht sie und ein Neubeginn im Mittelpunkt, sondern er und das Ende eines beinahe unendlich langen Dienstes an der Öffentlichkeit.
Altersheim als erste Aufgabe
Martin Zumbrunn wurde 1970, damals 28 Jahre alt, angefragt, sich in der Armenpflege, wie sie damals hiess, zu engagieren. Das zählte zu jener Zeit zu den Aufgaben der Bürgergemeinde und deshalb kamen nur Bürger für diese Behörde infrage. So leicht wie das Jawort zu seiner Frau im selben Jahr fiel ihm auch die Zusage für die neue Aufgabe. Denn der Aufwand sei überschaubar, wie ihm versichert wurde.
«Sogar sehr überschaubar», korrigiert er rückblickend diese Einschätzung. Richtig gefordert wurde er erst im folgenden Jahrzehnt, als Wittinsburg sowie Buckten, Häfelfingen, Känerkinden, Rümlingen und die spätere Standortgemeinde Läufelfingen beschlossen, gemeinsam ein Alters- und Pflegeheim zu errichten. 1989 ging es in Betrieb. Zumbrunn sass als Vertreter seiner Gemeinde im Stiftungsrat. «Wir hatten anfänglich aber schlicht keinen Sozialfall zu betreuen», erzählt er, «und danach einen, dafür einen besonderen.»
Ein Wittinsburger Bürger – nein, er hiess nicht Zumbrunn – führte ein Leben in Landstreicher-Manier. Bevor jeweils der Winter einzog, hatte er sich bewusst etwas zuschulden kommen lassen, um im Gefängnis überwintern zu können. Später lebte er im kantonalen Altersheim in Liestal, und seine Bürgergemeinde musste lange für die Kosten aufkommen. Erst als ihn diese umplatzieren wollte, übernahm der Kanton das Bezahlen. «Zum Glück», sagt Zumbrunn, ein verschmitztes Lächeln andeutend, «denn dieser Herr aus Wittinsburg wurde über 100 Jahre alt.»
Die ganzen 48 Jahre über, die Zumbrunn der Armenpflege angehörte, die 1974 erst in Fürsorgebehörde umgetauft wurde und seit 2001 Sozialhilfebehörde heisst, hielten sich die gängigen Fälle in sehr engen Grenzen. Das änderte sich mit der Flüchtlingswelle mit Personen aus den Folgestaaten von Ex-Jugoslawien sowie mit dem Durchgangsplatz für Fahrende, der fern vom Dorf im Gemeindebann liegt. Zumbrunn ist in der Behörde zwar für das Asylwesen zuständig, gleichwohl begab er sich auch einmal auf den Durchgangsplatz, der bald vom Kanton für fast 1 Million Franken saniert wird: «Die Armut ist dort überall sicht- und fühlbar. Das geht unter die Haut.» Die neben Zumbrunn sitzende Gemeindepräsidentin Caroline Zürcher, die einst als Mitglied und heute als Vertreterin des Gemeinderats ebenfalls der Sozialhilfebehörde angehört, pflichtet bei: «Da kämpft man mit den Tränen.»
Ausschaffungsbefehle eröffnet
Martin Zumbrunn ist aber bis zum Jahreswechsel hauptsächlich für das Asylwesen zuständig und musste in dieser Funktion betroffenen Familien mehrfach Ausschaffungsbefehle eröffnen. Einmal, so erinnert er sich, habe er sich um 4.30 Uhr in der Früh eigens zu einer ausländischen Familie begeben, um ihr beizustehen. Denn an jenem Morgen sei sie von der Polizei abgeholt worden, um in ihre Heimat zurückgebracht zu werden. «Martin Zumbrunn hatte einen sehr guten Draht zu den Asylbewerbern in unserem Dorf. Es zu einem grossen Teil ihm zu verdanken, dass wir mit ihnen keine Probleme kannten, auch nicht bei Ausschaffungen», urteilt die Gemeindepräsidentin. Seine Aufgabe bestand auch darin, den Asylbewerbern das ihnen zustehende Geld auszuhändigen. Er überbrachte es ihnen immer in kleinen Portionen, um zu verhindern, dass es die Bedürftigen zu schnell und zu unüberlegt ausgeben. Deshalb war er mehr unterwegs als nötig. «Doch das bemerkte niemand», sagt Zumbrunn, der diese Behörde auch 13 Jahre lang präsidierte, «ich war stets der Schaffer im Hintergrund.»
Schütze, Sänger, Turner, Ehemann
Der dreifache Familienvater engagiert sich in seiner Wohngemeinde auch anderweitig. So amtete er als talentierter und leidenschaftlicher Schütze ganze 20 Jahre als Präsident des inzwischen nicht mehr existierenden lokalen Schiessvereins. Jeden Mittwoch beteiligt er sich mit den «Schnüüfelern», wie sie im Dorf genannt werden, am Gesundheitsturnen. An einigen Dienstagabenden stehen Sitzungen und andere Termine der Sozialhilfebehörde in seiner Agenda. Jeden Montag übt er mit dem Konzertchor Cantate Basel. «Das steht bei mir an erster Stelle», sagt er, «wenn wir mit dem Chor für eine Woche in ein Singlager verschwinden, dann ist das für mich wie Ferien, obwohl wir dort jeden Tag sieben Stunden üben.»
Der Donnerstag ist unter der Woche der einzige nicht fix verplante Abend, denn am Freitag trifft er sich abends in der Regel mit Freunden im «Bürgin» auf ein Glas. «Natürlich», sagt er, begebe er sich nur an den Stammtisch, wenn er weiss, dass er dort auch Bekannte trifft. «Um einfach alleine an einem Tisch zu sitzen und gelangweilt den ‹Blick› durchzustöbern, dazu ist mir meine Zeit zu schade», sagt er.
Auch privat war und ist er gefordert: Weil sich sein Plan zerschlug, den elterlichen Bauernhof zu übernehmen, erlernte er mit 26 den Beruf des Mechanikers und arbeitete fortan für die Firma Maschinenbau Thommen in Rümlingen. Da seine Ehefrau bereits in jungen Jahren eine neurologische Krankheit erlitt und bald auf einen Rollstuhl angewiesen war, wurde er auch daheim zusätzlich gebraucht. Aber selbst als er vor acht Jahren einen Hirnschlag erlitten hatte, hielt er an seinem Wochenplan und seinen Aufgaben fest. Seit seine Frau daheim von umsichtigen Händen betreut wird und er sich voll erholt hat, sagt er: «Mir geht es jetzt so gut wie nie zuvor.»
So bleibt nur noch die Frage: «Weshalb, Herr Zumbrunn, haben Sie in diesem Fall nicht noch zwei Jahre angehängt, um mit schönen, runden 50 Amtsjahren abzutreten?» Bezeichnender könnte seine Antwort nicht ausfallen: «Ich wusste gar nicht genau, wie lange ich unserer Sozialhilfebehörde angehörte. Aber ich bin ohnehin nicht der Typ für Jubiläen und Rekorde. Ich brauche keine Raketen.»