Werden derart heisse September das «neue Normal», werde es für die Blauburgunder-Reben in unserer Region schwierig: Dies sagt Urs Weingartner, Rebbaukommissär für Baselland, Basel-Stadt und Solothurn. Insgesamt zieht er aber ein positives Fazit über die Weinlese 2023, die dieser Tage abgeschlossen wird.

David Thommen

Herr Weingartner, ältere Erntehelferinnen und -helfer erinnern sich, dass man einst bei der Traubenlese regelmässig noch geschlottert hat. Jetzt schwitze man an Erntetagen bei 28 Grad …
Urs Weingartner: Sehr schöne und warme Herbsttage gab es natürlich schon immer. Was in diesem Jahr aber extrem ist, ist die lange Phase mit sommerlichen Tagen. In der Summe hat es das noch nie gegeben! Zwei Beispiele: An der Wetterstation im Weingebiet in Aesch gab es im September 21 Tage, an denen mehr als 25 Grad gemessen wurden, davon war es an 10 Tagen wärmer als 30 Grad – also sogenannte Hitzetage. Selbst an der Messstation auf dem «Breitenhof» bei Wintersingen auf 550 Metern über Meer wurden 15 Sommertage mit mehr als 25 Grad registriert. Auch das wurde bisher noch nie beobachtet. Und nun ist es im Oktober bereits mit neuen Rekordwerten weitergegangen …

Eigentlich müsste das Prachtswetter für den Weinjahrgang ja ideal sein.
Man könnte es meinen, doch tel quel stimmt das nicht. Wir haben bei uns einige Traubensorten, die mit diesen Temperaturen auf die Dauer nicht besonders gut zurechtkommen – vor allem der Blauburgunder, unsere rote Hauptsorte. Wärme und auch die intensive Sonneneinstrahlung führen zu Stress und damit zu Hitzeschäden an den Trauben. Die Winzer sprechen von «Sonnenbrand». Kommt hinzu, dass es im September nicht nur an den Tagen, sondern auch in den Nächten zu warm war, was im Rebbau unerwünscht ist.

Weshalb?
Viele Sorten der gemässigten Rebbaugebiete brauchen kühle Nächte mit weniger als 7 Grad als Schlüsselreiz, um ihr Programm von Sommer auf Herbst umstellen zu können. Tiefe Temperaturen führen dazu, dass die Rebe die Vegetationszeit abschliesst und ihre Kraft noch nutzt, um die Traubenhäute dicker werden zu lassen. Das ist sehr erwünscht, denn dadurch wird die Aromatik aufgebaut. Fehlen kühle Nächte, kann die Rebe aus der Sicht des Winzers nicht ihr ganzes Potenzial entfalten.

Bekommen wir also wider Erwarten einen etwas eher flachen und langweiligen Weinjahrgang?
Nein, dieser Schluss wäre falsch, weil ein anderer Faktor eine wichtige Rolle spielt: Durch Hitze und hohe Sonneneinstrahlung haben die Blauburgundertrauben mit ihren vergleichsweise dünnen Häuten viel Flüssigkeit verloren; viele der Trauben sind stark geschrumpft. Geht Flüssigkeitsvolumen verloren, so nehmen die Zuckerkonzentration und die Aromatik zu. Der Wein wird dadurch intensiver, was allerdings nicht gerade sortentypisch ist. Am Blauburgunder schätzt man ja die Fruchtigkeit. Wir wollen hier nicht unbedingt einen Amarone oder einen Primitivo produzieren …

Süsse Trauben ergeben auch alkoholische Weine …
Verbreitet wurde in diesen Wochen beim Blauburgunder ein Zuckergehalt von mehr als 100 Öchslegrad gemessen, was einen Wein mit fast 14 Volumenprozent Alkohol ergeben wird. Für einen «Baselbieter» ist das an der oberen Grenze. Hiesige Kellermeister erachten rund 95 Öchslegrad als wünschenswert.

Gibt es wegen der vielen geschrumpften Beeren einen kleineren Ertrag?
Davon gehe ich nicht aus, denn es hat in diesem aussergewöhnlichen Jahr einen fast phänomenalen Behang gegeben. Er war nach einer optimalen Blütezeit so ausgeprägt, wie man das selten oder vielleicht noch gar nie beobachtet hat. Wir von der Rebbaufachstelle mussten die Winzer darauf aufmerksam machen, dass sie Trauben vorzeitig herausschneiden sollen, damit der erlaubte Höchstertrag von einem Kilogramm Trauben pro Quadratmeter bei den roten Sorten nicht überschritten wird. Ich rechne damit, dass trotz der geschrumpften Beeren letztlich ein durchschnittlicher Ertrag resultieren wird.

Wer sich in den Rebbergen umgeschaut hat, stellte fest, dass die Blauburgundertrauben nicht besonders schön aussahen …
Ja, der Aufwand bei der Lese ist in diesem Jahr ausgesprochen hoch, es muss viel manuell aussortiert werden. Gäbe es nicht so viele ehrenamtliche Helfer und müssten reguläre Stundenlöhne bezahlt werden, würde das gewaltig auf die Rentabilität schlagen … Die stark geschrumpften oder sogar vertrockneten Beeren sind weniger das Problem. Mehr Arbeit verursachen die Trauben, die nach den Regenfällen im August sehr rasch prall geworden und leicht aufgeplatzt sind. Dort ist es zu Essigsäurebildung gekommen. Diese Beeren müssen bei der Ernte aufwendig entfernt werden, damit der Wein qualitativ einwandfrei wird.

Sind unsere jetzigen Hauptsorten angesichts der heissen Sommer überhaupt noch geeignet, oder braucht es über kurz oder lang einen Umbau des Sortiments?
Hier in der Nordwestschweiz werden insgesamt mehr als 85 Rebsorten kultiviert. Für die allermeisten davon war 2023 kein Problem. Die meisten haben sogar überdurchschnittlich gut «performt», vor allem die weissen Sorten. Verunsichert sind vor allem diejenigen Winzer, die Blauburgunder produzieren. Sollte ein September wie in diesem Jahr zum «neuen Normal» werden, wird es in Zukunft tatsächlich schwierig. Diese Winzer müssen sich bei der Erneuerung von Anlagen genau überlegen, auf welche Sorte sie künftig setzen wollen.

Was empfiehlt Ihre Fachstelle?
Unsere wichtigste Empfehlung: Bei der Sortenwahl muss man sehr weit vorausdenken. Das gilt natürlich vor allem für Weinbauern, die ihr Einkommen mit dem Rebbau bestreiten. Eine Neuanpflanzung ist eine teure Angelegenheit, da spricht man von einer Investition von 100 000 bis 130 000 Franken pro Hektare. Der Entscheid, den man heute fällt, sollte auch in 25 Jahren noch der richtige sein. Die Aufgabe ist anspruchsvoll: Welchen Typ Wein werden die Konsumentinnen und Konsumenten auch in einigen Jahrzehnten noch nachfragen? Welche Rolle spielt der Klimawandel? Wird die ökologische Produktion noch wichtiger? Und so weiter.

Eine eindeutige Empfehlung würden Sie hier also nicht abgeben?
Nein. Aber heute fällt die Wahl häufig auf eine pilzwiderständige Sorte, also auf eine sogenannte «Piwi»-Rebe. Dies vor allem aufgrund des Anspruchs der Gesellschaft und der Politik, dass landwirtschaftliche Produkte künftig möglichst naturnah produziert werden. Der Austrag von Pestiziden muss reduziert werden, der Bund hat dafür einen sogenannten Absenkpfad definiert. Im Rebbau haben wir das Glück, dass heute schon eine grosse Auswahl von Sorten zur Verfügung steht, die mit wenig Spritzmitteln auskommt.

Was macht in botanischer Hinsicht bei den «Piwi» den Unterschied?
Kurz und knapp erklärt: Es wurde bei amerikanischen Wildreben festgestellt, dass sie gegenüber Falschem Mehltau praktisch unempfindlich sind. Untersuchungen haben einen bemerkenswerten Mechanismus gezeigt: Wird ein Blatt von Pilzsporen besiedelt und «angebohrt», lässt die Pflanze kurzerhand ihre betroffenen Zellen im Blatt absterben. Der Pilz «verhungert» dadurch und kann sich nicht weiterverbreiten. Diese genetische Eigenschaft, die das Absterben der Zellen steuert, wurde mit konventioneller Zucht in europäische Traubensorten eingekreuzt.

Sind «Piwi»-Weine bei den Geniesserinnen und Geniessern konkurrenzfähig?
Absolut. Wo neue Rebanlagen erstellt werden, fällt der Entscheid schon heute mehrheitlich auf «Piwi», wenigstens beim Weisswein. Die Konsumenten nehmen die neuen Sorten gut auf.

Und beim Rotwein?
Dort ist man vielleicht noch nicht ganz so weit. Aber auch hier gibt es vielversprechende und marktfähige Neuzüchtungen, die angepflanzt werden.

Werden Sommer mit langen trockenen Perioden handkehrum bewirken, dass Pilzkrankheiten wie der Mehltau nur noch eine kleine Rolle spielen?
Tatsächlich trat der Falsche Mehltau, der bei Feuchtigkeit um sich greift, in diesem Jahr kaum auf. Aber es gibt leider auch noch den Echten Mehltau, der bei uns für gewöhnlich kaum Schäden anrichtet. In diesem Jahr war es anders: Für diesen Schadpilz waren die Bedingungen ideal. Die typisch gräulichen und aufgesprungenen Beeren als Folge davon konnte man vielerorts beobachten. Der Echte Mehltau war bisher in südlichen Ländern ein Problem. In Zukunft könnte er es auch bei uns werden.

Es gibt Winzer, die etwas enttäuscht sind, dass «Piwi»-Sorten offenbar nicht ganz so pilzwiderständig sind, wie man das eigentlich gehofft hatte.
Das hängt wiederum mit der Klimaerwärmung zusammen: Diese Sorten wurden über Jahrzehnte bei der Züchtung darauf selektiert, dass sie robust sind gegen den Falschen Mehltau in feuchten Jahren. Und jetzt tritt plötzlich der Echte Mehltau auf … Allerdings ist die Bekämpfung dieser Pilzkrankheit keine allzu grosse Sache. «Piwi»-Sorten müssen je zwei Mal mit Kupfer und Schwefel behandelt werden, bei konventionellen Trauben hingegen sind in feuchten Jahren bis zu 15 Spritzungen nötig.

Ganz ohne Schwefel und Kupfer geht es aber auch bei den «Piwi» nicht?
Die Sorten sind widerstandsfähig, wie es der Name besagt, aber nicht komplett resistent. Die Spritzungen empfehlen wir auch deshalb, damit sich die vorhandenen Pilze nicht zu stark etablieren können, selbst wenn diese an den «Piwi»-Sorten keinen Schaden anrichten. Aber wo es grosse Pilzpopulationen gibt, kann es spontane Mutationen geben. Falls sich plötzlich ein Pilzstamm entwickelt, der die modernen Sorten «knacken» kann, sind Jahrzehnte züchterischer Arbeit zunichtegemacht.

Werden die Pilze durch den Spritzmitteleinsatz in allen Rebbergen aggressiver?
Ich würde nicht sagen, dass die Pilze aggressiver geworden sind. Es hat damit zu tun, dass die Wirksamkeit von Mitteln immer irgendwann nachlässt, wenn man sie intensiv und jahrelang einsetzt. Es lässt sich mit den Antibiotika vergleichen – auch hier haben sich im Laufe der Zeit Resistenzen gebildet. Bei den Reben empfehlen wir, den gleichen Wirkstoff nur zwei Mal pro Jahr einzusetzen.

Vermehrt probieren Winzerinnen und Winzer, herkömmliche Sorten gemäss den Regeln des biologischen Landbaus zu bewirtschaften. Erntet man da mehr als nur Frust?
Nein, das gibt keinen Frust. Dieser Trend ist voll am Laufen. Schliesslich ist die Rebe bei Weitem nicht die schwierigste Kulturpflanze, um biologisch bewirtschaftet zu werden. Und es ist ja nicht so, dass im Bio-Rebberg überhaupt keine Spritzmittel eingesetzt werden dürfen.

… Schwefel und Kupfer sind erlaubt, wobei sich Letzteres im Boden anreichert.
Ja, Kupfer sollte man zurückhaltend verwenden. Aber es sind in der Zwischenzeit viele neue bio-kompatible Pflanzenschutzmittel entwickelt worden. Tonerdepräparate sind am Aufkommen oder auch Kaliumbikarbonat – wir würden Backpulver sagen – wird erfolgreich eingesetzt. Und es gibt Produkte, die aus Resten aus der Nahrungsmittelproduktion hergestellt werden, beispielsweise aus Fruchtschalen oder aus Schalen von Krustentieren, die eine fungizide oder pflanzenstärkende Wirkung entfalten. Solche Produkte erleichtern den Biowinzerinnen und -winzern das Leben.

Standard ist Bio in unseren Breiten aber noch nicht …
In unserem Rebbaugebiet, das Baselland, Basel-Stadt und Solothurn umfasst, sind es 30 von 137 Hektaren, die biologisch bewirtschaftet werden. Das sind immerhin schon 22 Prozent. Jedes Jahr stellen Betriebe neu auf Bio um, auch grössere.

In den vergangenen Jahren hat die Kirschessigfliege – kurz KEF – dem Weinbau zugesetzt. Wie ist die Bilanz in diesem Jahr?
Die KEF war in diesem Jahr letztlich weniger problematisch als zuerst befürchtet. Ihr ist es bei heissem, trockenem Wetter nicht besonders wohl. Überdies meine ich, dass wir im Weinbau dank dichter Netze oder Silikatpulver die Situation mittlerweile recht gut im Griff haben.

Dem Blauburgunder war es zu heiss

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