Sebastian Wirz

Frau Senn, Sie sind Assistenztrainerin am Aargauer Turnzentrum. Was verändert sich für Sie mit dem Wechsel nach Liestal?
Jennifer Senn: Ich wechsle von einem grösseren, sportlich erfolgreicheren Zentrum mit deutlich mehr Turnerinnen an das kleinere Nordwestschweizer Kunstturn- und Trampolinzentrum Liestal (NKL), dafür werde ich von der Assistentin zur Cheftrainerin. Grundsätzlich stehe ich weiterhin sechs Tage in der Woche in der Halle und leite Trainings. Dazu werde ich in Liestal Anlässe und Tests organisieren, Gespräche führen und die Verbindungsfunktion von der Halle zum Geschäftsführer sowie zum Leistungssportleiter übernehmen.

Sind Sie mit einem konkreten Ziel ans NKL berufen worden?
Das NKL hat als Fernziel vorgegeben, alle vier Jahre eine Turnerin hervorzubringen, die es ins Nationalkader nach Magglingen schafft. Das hat es in den vergangenen Jahren kaum gegeben. Daneben gilt der Fokus von mir und meiner Assistentin Sarina Gerber den jüngeren Turnerinnen bis 10 Jahre. Die Mädchen-Jahrgänge am NKL waren in jüngerer Vergangenheit relativ dünn und grosse Erfolge selten. Wir wollen hier eine bessere Breite aufbauen und in ein paar Jahren national wieder ganz vorne dabei sein. Der Kontakt zu den Vereinen soll intensiviert werden, damit mehr Turnerinnen zum NKL stossen. Beim Training mit den Jüngeren habe ich schon viel Erfahrung.

Was für eine Cheftrainerin bekommen die Turnerinnen?
Ich lege grossen Wert auf Technik. Dazu hatte ich bisher immer einen guten Umgang mit den Turnerinnen. Sie haben mich gern. Ich bin eine ruhige Person, aber dennoch streng genug.

Kunstturnerinnen trainieren bis zu 25 Stunden pro Woche, Sie dürften einige fast mehr sehen als ihre erwerbstätigen Eltern – und das in einer entscheidenden Phase der persönlichen Entwicklung. Eine grosse Verantwortung für eine Sporttrainerin. Einverstanden?
Die Erziehung passiert immer noch daheim, ihre Art und ihren Charakter bringen die Mädchen mit in die Turnhalle, aber ja, bei uns lernen sie viel dazu. Umgang, Disziplin, Durchhaltewille. Sie werden aber auch selbstständig. Ich bin nicht ihre Mutter, gebe ihnen nicht alles vor. Aber ja, man merkt schnell, wenn es einer Turnerin nicht gut geht, vor allem die Jüngeren erzählen gerne viel. Wenn ich merke, dass etwas nicht stimmt oder eine Turnerin wiederholt schlecht drauf ist, suche ich das Gespräch mit den Eltern. Für mich ist Kunstturnen immer noch eine Lebensschule.

Und Sie sind damit nun die «Lebenslehrerin». Bei zentralen Anstellungen im Sportnachwuchs gilt es immer die Frage zu beachten, wer die Kinder erfolgreich macht und zugleich menschlich fördert – etwas, das im Kunstturnen in vergangener Zeit nicht immer berücksichtigt wurde.
Ich behaupte, es wird im Bewerbungsprozedere sehr stark auf den Menschen geschaut. Das Fachliche kann sich jemand auch noch aneignen, das Menschliche muss stimmen. Hier können Sie meine und Sarina Gerbers Anstellung als Beispiel nehmen: Es war den Verantwortlichen wichtig, jemanden zu finden, der Deutsch spricht, um gut mit den Turnerinnen kommunizieren zu können. Ich habe eine Vergangenheit im Spitzensport, aber wir haben nicht die allerhöchste turnerische Trainer-Ausbildung. Ich behaupte, dass wir gut mit den Turnerinnen umgehen können und das technische Rüstzeug haben. Wir werden während unseres Engagements in Liestal zudem Weiterbildungen absolvieren.

Die Schlagwörter Missbrauch, psychischer Druck, Zwang, Einschüchterungen und übertriebene Härte gegenüber Athletinnen dominieren den Turnsport nicht nur in der Schweiz. Halten Sie Erfolg in einer Sportart, die so viel Disziplin erfordert, bei einem Umgang nach unseren ethischen Vorstellungen für möglich?
Ich sage ja. Wir müssen einfach mehr daran arbeiten, die Turnerinnen zu motivieren. Wir müssen die Freude an unserem Sport rüberbringen, dass sie die unzähligen Wiederholungen selber wollen. Ich will eine Unterstützung sein, nicht jemand, der grossen Druck ausübt. Aber das geht nicht immer und nicht mit allen. Dann muss ich auch mal streng sein, wenn auch mit Mass. Ich muss zu verstehen geben, dass es die Wiederholungen ganz einfach braucht, wenn ein Element klappen soll. Und ja, wenn eine Turnerin etwas partout nicht will, dann muss ich das akzeptieren.

Wie erklärt man einer Turnerin nach 10 Stürzen bei Element X, dass sie dieses Element weitere 100 Mal turnen soll?
Weil ich selber Turnerin war, kenne ich diese Situation aus eigener Erfahrung. Ich weiss bei Elementen oder Blockaden, was bei mir damals funktioniert hat. Das hilft mir bei meiner Arbeit sehr. Ebenso weiss ich, wie es ist, auf Dinge zu verzichten. Ich kann einer Turnerin erklären, weshalb wir mal den Geburtstag einer Freundin auslassen müssen und mal einen Ausflug der Familie, wenn wir Erfolg haben wollen. Ich habe auch verzichtet. Und ich habe es im Endeffekt genossen.

Bei Missbrauchsfällen und etwa Enthüllungen wie den «Magglingen-Protokollen» folgt erschreckend oft die Reaktion: «Ist halt Kunstturnen. Das ist dort doch immer so.» Wie lässt sich dieses Bild ändern?
Es braucht wohl einfach Zeit. Wir wollen das nicht so machen wie vor 15 Jahren. Die Problematik ist in den Köpfen der Trainerinnen und Trainer sehr präsent. Wir haben hier im Aargau keine konkreten Regeln dagegen, aber es gibt automatisch einen Fokus darauf. Man muss in der Turnhalle auch einmal ausrufen dürfen, aber nicht immer und nicht wegen jedes kleinen Details Turnerinnen zusammenpfeifen und Druck ausüben. Wenn wir das konsequent so machen, werden Turnerinnen bis in 10 Jahren nichts anderes als diesen Umgang kennen. Und damit wird sich auch das Bild in der Öffentlichkeit ändern.

Nach den Missbrauchsvorwürfen sind beim Verband Köpfe gerollt. Das Frauen-Nationalkader wird ad interim geführt. Es ist offen, wie es weitergeht. Hat dieses Vakuum einen Einfluss auf Ihre Arbeit? Magglingen soll ja das Ziel Ihrer Turnerinnen sein.
Ich glaube nicht, dass dies die Motivation der Turnerinnen beeinträchtigt. In Magglingen wird es eine Lösung geben, da bin ich sicher. Wir machen einen langfristigen Aufbau. Bis unsere Turnerinnen so weit sind, wird der Schweizerische Turnverband die Situation im Nationalkader gelöst haben.

Zur Person

wis. Am 1. Februar tritt Jennifer Senn ihre Stelle als Cheftrainerin Frauen am Nordwestschweizerischen Kunstturn- und Trampolinzentrum Liestal an. Die 28-jährige Fricktalerin turnte selbst an zwei Weltmeisterschaften und einer Europameisterschaft. Seit 2017 ist sie Assistenztrainerin am Aargauer Turnzentrum in Niederlenz.

«Man muss mal ausrufen dürfen»

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